LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.04.2007 - L 9 AY 1/05 - asyl.net: M11006
https://www.asyl.net/rsdb/M11006
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Zumutbarkeit, freiwillige Ausreise, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Die Berufung der Beklagten ist zwar zulässig, weil sie mit Bescheid vom 16.12.2004 eine zeitlich nicht begrenzte Leistung ab 1.1.2005 bewilligt hat, wozu sie berechtigt ist (vgl BSG – Urteil vom 8.2.2007 – B 9b AY 1/06 R, Rn 12,13). Sie ist aber unbegründet. Den Klägern stehen vielmehr auch weiterhin Hilfeleistungen in Höhe der Leistungen nach dem (nunmehr ab 1.1.2005 geltenden) SGB XII gemäß § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz zu, weil sie entgegen der Annahme der Beklagten die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben/beeinflussen.

Der Begriff der "Rechtsmissbräuchlichkeit", der an die Stelle der bis 31.12.2004 geltenden Umschreibung der eine Ausweisung hindernden Gründe in § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz ist (... wenn die Ausreise nicht erfolgen kann ..., da humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe ... entgegenstehen), ist vom Gesetzgeber nicht näher definiert worden. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil aaO, Rn 18) ist unter einer rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) erlangt hat, zu verstehen. Darunter fällt auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland, dem es möglich und zumutbar wäre, auszureisen (Ende der Rn 18 mwN) – der also in vorwerfbarer Weise nicht ausreist, obwohl ihm die Erfüllung der Ausreisepflicht sowohl tatsächlich und rechtlich möglich als auch zumutbar ist (vgl BSG aaO, Rn 21, 22 mwN).

Eine derartige besondere unverschuldete Situation, die eine Ausreise unzumutbar macht, ist im vorliegenden Fall durch die Krankheit der Kläger zu 2), zu 3) und zu 4) gegeben und zu berücksichtigen.

Ausweislich des vom Senat eingeholten Gutachtens nach Aktenlage vom 26.1.2007 steht fest, dass die Kläger zu 2), zu 3) und zu 4) bereits für die Zeit vom 4.5.2001 bis 1.1.2005 reiseunfähig erkrankt gewesen sind. Danach liegen bei den Klägern zu 2) und zu 3) schwerwiegende und bedrohliche posttraumatische Störungen vor. Auch bei der Klägerin zu 4) besteht eine entsprechende psychiatrische Erkrankung, wenngleich weniger schwerwiegend und bedrohlich als bei den Klägern zu 2) und 3). Der Senat sieht es auch als nachvollziehbar an, dass die Behandlung solcher schweren posttraumatischen Belastungsstörungen in erster Linie darauf ausgerichtet ist, stabilisierende Maßnahmen aufzubauen und Retraumatisierungen zu vermeiden, und dass eine derartige Stabilisierung nicht gelingen kann, wenn permanent eine Rückkehr in die Umgebung droht, in dem die Traumatisierung erfolgte.