VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 11.04.2007 - M 23 K 05.50461 - asyl.net: M11029
https://www.asyl.net/rsdb/M11029
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, soziale Gruppe, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Zwangsheirat
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Im Falle der Klägerin liegt eine drohende sog. geschlechtsspezifische Verfolgung vor.

Gemäß § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG kann als Sonderfall der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine solche sog. geschlechtsspezifische Verfolgung kann nach der Systematik des Gesetzes auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Denn die Regelung des § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG, der die möglichen Verursacher einer für § 60 Abs. 1 AufenthG beachtlichen Verfolgung aufzählt und in § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG die sog. nichtstaatlichen Akteure nennt, nimmt aus derWendung "Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1" ersichtlich Bezug auf alle fünf sog. asylerhebliche Merkmale, die in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG aufgezählt sind. Damit liegt aber auch eine Bezugnahme auf die Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und folgerichtig als deren Unterfall eine Bezugnahme auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung vor.

Die generell menschenrechtswidrige Situation von Frauen in Afghanistan ist unter Zugrundelegung der vorliegenden Erkenntnismittel offensichtlich.

So führt etwa der Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 13. 07. 2006 zu der geschlechtsspezifischen Menschenrechtslage aus, dass die Prägung der Menschenrechtslage afghanischer Frauen bereits vor dem Taliban-Regime durch häufig orthodoxe Scharia Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes immer noch nachwirkt (Lagebericht vom 13.07.2006, S. 20). Die Verwirklichung elementarer Menschenrechte bleibt für den größten Teil afghanischer Frauen weit hinter dem kodifizierten Recht zurück (Lagebericht, ebda.). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind nicht in der Lage - oder auf Grund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt - Frauenrechte zu schützen (Lagebericht vom 13.07.2006, S. 21). Frauen werden traditionell in vielfältiger Hinsicht benachteiligt (vgl. Lagebericht, a.a.O. mit zahlreichen Beispielen). In Afghanistan sind sowohl Tötungen von Frauen auf Grund des behaupteten Vorwurfs des Ehebruchs, verbreitet wie auch die Bestrafung von Frauen wegen behaupteter sog. "Zina"-Vergehen, d.h. wegen angeblicher Verstöße gegen moralische Vorgaben (vgl. Lagebericht a.a.O.). Sexualverbrechen sind in Afghanistan an der Tagesordnung. Solche Verbrechen zur Anzeige zu bringen, hat auf Grund des desolaten Zustandes des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg (vgl. Lagebericht vom 21.06.2005, S. 25). Viele Frauen sind wegen sogenannter Sexualdelikte inhaftiert, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht entzogen haben (vgl. auch Lagebericht vom 17.03.2007, S. 17 ff.).

Dies berücksichtigend unterliegt es keinem Zweifel, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan der erheblichen Gefahr geschlechtsspezifischer, menschenunwürdiger Misshandlungen ausgesetzt wäre. Das Gericht hält wegen der detaillierten und schlüssigen Angaben anlässlich der Anhörung vom 21.12.2004 den Sachvortrag für glaubhaft, dass die Klägerin in Afghanistan gezwungen gewesen wäre, einen Freund ihres Onkels väterlicherseits zu heiraten und ihr deshalb eine Tante mütterlicherseits die Ausreise aus Afghanistan ermöglicht hat. Es liegt auf der Hand, dass in dem durch Willkür und Gewalt geprägten Land die Klägerin von ihrer Tante mütterlicherseits nicht gegen Verfolgung dauerhaft geschützt werden kann und auch eine Schutzgewährung durch die in Afghanistan tätigen "Sicherheitskräfte" nicht erreichbar ist. Hinzu kommt, dass nach den glaubhaften Angaben der Klägerin ihre Eltern nicht mehr am Leben sind und sie auch keine Geschwister hat, die ihr helfen könnten. Es bestünde bei einer Rückkehr nach Afghanistan die extreme Gefahr, dass die Klägerin - weil sie sich einer Zwangsheirat wiedersetzt hat - entweder entführt oder wegen "Unzucht" inhaftiert würde.