VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 11.04.2007 - M 4 K 07.50230 - asyl.net: M11030
https://www.asyl.net/rsdb/M11030
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Baath, Machtwechsel, Antragstellung als Asylgrund, illegale Ausreise, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Anerkennungsrichtlinie, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Erlasslage, Abschiebungsstopp, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; RL 2004/83/EG Art. 6 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 7; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.

1. DieWiderruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in der Person des Klägers bezüglich Irak ist durch § 73 Abs. 1 AsylVfG gedeckt.

d) Wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise drohen dem Kläger mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen (ebenso: BVerwG v. 11.2.2004, Az.: 1 C 23.02; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30232; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30567; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30189; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30151 BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30152; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30230; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30231; VGH Mannheim v. 16.9.2004, Az.: A 2 S 471/02; VGH Mannheim v. 26.4.2004, AuAS 2004, 176; BayVGH v. 19.4.2004, Az.: 15 B 01.30384; OVG Greifswald v. 2.4.2004, Az.: 2 L 269/02; OVG Lüneburg v. 30.3.2004, Az.: 9 LB 5/03). Derartige früher gefahrbegründende Verstöße haben ihre Bedeutung verloren, weil ihr ehemals gefährdender Charakter entscheidend auf dem Unrechtsregime Saddam Husseins beruhte.

e) Aus der allgemein schlechten Sicherheitslage lässt sich auch keine Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG herleiten. Dass sich aber solche Vorkommnisse gegen den Kläger wegen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erheblicher Merkmale richten könnten, steht nicht zu erwarten, weil Anhaltspunkte für wiederholte und gezielte Anschläge gegen Personen wegen der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Merkmale gerade nicht bestehen (vgl. die ins Verfahren eingeführten Lageberichte des Auswärtigen Amtes).

f) Schließlich vermag auch die (vermeintliche) Gefahr, infolge der Flucht nach Europa, respektive in die Bundesrepublik Deutschland, Opfer einer Entführung bzw. einer Erpressung zu werden, weil von Rückkehrern aus Europa vermutet wird, dass diese über Geld verfügen, den Tatbestand des § 60 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1 Satz 4 AufenthG nicht zu begründen. Das folgt daraus, dass nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln Geiselnahmen im Irak im Grunde genommen jeden treffen können und nicht nur die Rückkehrer aus Europa.

g) Dem Widerruf steht Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) nicht entgegen, denn § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entspricht seinem Inhalt nach der "Beendigungs-" oder "Wegfall-der-Umstände-Klausel" in Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK.

Der Begriff "Schutz des Landes" in dieser Bestimmung hat keine andere Bedeutung als "Schutz dieses Landes" in Art. 1 A Nr. 2 GFK, der die Flüchtlingseigenschaft definiert (grundlegend BVerwG v. 1.11.2005, BVerwGE 124, 276). Schutz ist dabei bezogen auf die Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Überzeugung. Da Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK die Beendigung des Flüchtlingsrechts im Anschluss an Art. 1 A Nr. 2 GFK regelt, kann mit "Schutz" nur der Schutz vor Verfolgung gemeint sein (BVerwG v. 1.11.2005, BVerwGE 124, 276 m.w.N.).

h) Dieses Ergebnis bedarf auch im Hinblick auf die sog. Qualifikationsrichtlinie (Nr. 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004, Abl.EG 2004, L 304/12 ff.) keiner Korrektur.

Wird eine Richtlinie verspätet durch einen Mitgliedstaat in die nationale Rechtsordnung umgesetzt und fehlt es - entsprechend obigen Ausführungen - an der unmittelbaren Wirkung ihrer einschlägigen Bestimmungen, so sind die nationalen Gerichte - vor dem Hintergrund des Art. 10 EG und des sog. "effet utile" - verpflichtet, das innerstaatliche Recht ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist, so weit wie möglich im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der betreffenden Richtlinie auszulegen, um die mit ihr verfolgten Ergebnisse zu erreichen (aus neuerer Zeit: EuGH v. 4.7.2006, NJW 2006, 2465).

Unter Anwendung vorstehender Rechtsgrundsätze ist zunächst festzustellen, dass die von der Qualifikationsrichtlinie aufgestellten Mindestnormen bereits weitgehend durch das sog. Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) umgesetzt worden sind. Das gilt namentlich für Art. 6 Buchst. c) und Art. 7 der Qualifikationsrichtlinie, die von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG zusammengefasst werden. Soweit es an einer Umsetzung fehlt (z. B. hinsichtlich Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie), wirken diese Regelungen jedoch nicht unmittelbar, denn sie sind entweder nicht "self-executing", sondern erfordern eine konkretisierenden Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber, oder wirken zu Lasten des Bürgers. Damit sind die bisher nicht umgesetzten Regelungen der Qualifikationsrichtlinie aber nicht bedeutungslos, sondern sind vom Gericht bei der Auslegung der nationalen Vorschriften zu beachten. Dies ist vorstehend unter Anwendung der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung geschehen.

i) An diesem Ergebnis ändert schließlich auch § 73 Abs. 2a AsylVfG nichts, denn die Voraussetzungen dieser Norm liegen (noch) nicht vor.

2. Zutreffend hat das Bundesamt ferner festgestellt, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen.

b) Letztlich liegen auch Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vor.

§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hindert die Abschiebung nicht, da diese Regelung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verdrängt wird (vgl. zum Verhältnis von § 53 Abs. 6 Satz 1 zu Satz 2 AuslG etwa BVerwG v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324 [327]; BVerwG v. 17.12.1996, NVwZRR 1997, 740; BVerwG v. 29.11.1997, NVwZ 1998, 524 = DVBl. 1998, 284; BayVGH v. 9.11.2004, Az.: 15 ZB 04.30650).

Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 (Az.: Nr. IA22084.2013) zur "ausländerrechtlichen Behandlung irakischer Staatsangehöriger" verfügt, dass irakische Staatsangehörige, die Nicht-Straftäter oder unter Sicherheitsaspekten vordringlich abzuschieben sind, nicht abgeschoben werden bzw. der genannte Personenkreis eine (auf sechs Monate befristete) Duldung erhält und dass auslaufende Duldungen bis auf weiteres um sechs Monate zu verlängern sind. Die Konferenz der Länderinnenminister hat wiederholt (zuletzt am 16./17.11.2006) die Einschätzung des Bundes geteilt, dass ein Beginn von zwangsweisen Rückführungen in den Irak jedenfalls von solchen Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht straffällig geworden sind, nicht möglich ist. Dem entsprechend wurde auch in Bayern die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger (weiterhin) ausgesetzt (vgl. Schreiben des Bayer. Staatsministeriums des Innern vom 30.4.2004 und vom 10.2.2005). Das Gericht geht unter Zugrundelegung der ständigen Rechtsprechung des BayVGH (vgl. z. B. BayVGH v. 5.7.2004, Az.: 23 B 04.30174; BayVGH v. 9.9.2004, Az.: 15 ZB 04.30699; BayVGH v. 7.10.2004, Az.: 13a ZB 04.30844; BayVGH v. 14.10.2004, Az.: 13a ZB 04.30842; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30232; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30151; BayVGH v. 30.5.2005, Az.: 23 B 05.30185 u. a.; ebenso für die Erlasslage in Baden-Württemberg: VGH Mannheim v. 16.9.2004, Az.: A 2 S 471/02) davon aus, dass diese Weisungen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern Anordnungen im Sinne von § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG darstellen, weil hierdurch eine Erlasslage geschaffen worden ist, die den Anforderungen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG entspricht, weil sie dem betroffenen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt. Folglich bedarf der Kläger keines zusätzlichen Schutzes vor der Durchführung der Abschiebung etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG v. 12.7.2001, NVwZ 2001, 1420 = DVBI 2001, 1531 = InfAuslR 2002, 48 zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG). Der Kläger ist deswegen auch nicht schutzlos gestellt, denn sollte der ihm infolge der genannten Rundschreiben zustehende Abschiebungsschutz nach Rechtskraft dieses Urteils entfallen, so kann er unter Berufung auf eine extreme Gefahrenlage jederzeit ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vor dem Bundesamt verlangen (vgl. BVerwG v. 12.7.2001, NVwZ 2001, 1420 = DVBl 2001, 1531 = InfAuslR 2002, 48).

Liegt aber eine Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG i. V. m. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor und fällt der Betroffene, wie vorliegend der Kläger, in den Anwendungsbereich dieser Anordnung, so bleibt für eine Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf allgemeine Gefahren kein Raum mehr.

c) Vorstehende unter a) und b) gemachte Ausführungen bedürfen auch im Hinblick auf die sog. Qualifikationsrichtlinie keiner Korrektur.

Der Kläger hat aber auch keinen Anspruch auf die Gewährung internationalen subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie. Danach ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt ist. Die hierfür zumindest erforderliche Konfliktsituation von gewisser Dauer und Intensität, die wohl einer Bürgerkriegssituation vergleichbar sein müsste (siehe hierzu Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG vom 13.10.2006, S. 16; Hollmann, Asylmagazin 2006/11), liegt nach Auffassung des Gerichts derzeit jedenfalls (noch) nicht vor (vgl. zuletzt Lagebericht vom 11.1.2007, S. 15 f.). Unabhängig davon steht nach Auffassung des Gerichts aber auch die bei allgemeinen mit einem bewaffneten Konflikt in Zusammenhang stehenden Gefahren vergleichbaren Schutz bietende oben dargestellte Erlasslage der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Flüchtlingsschutzes entgegen (siehe hierzu Erwägungsgrund 26 der Richtlinie).