VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 17.02.2006 - 7 E 559/05.A (1) - asyl.net: M11068
https://www.asyl.net/rsdb/M11068
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, Gruppenverfolgung, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Abschiebungsandrohung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 34 Abs. 1; AsylVfG § 38 Abs. 1
Auszüge:

Soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten begehrt festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind, ist die zulässige Verpflichtungsklage begründet.

Der Sachverständige D. führt in seinem Gutachten vom 13.06.2006, das auf einer Reise nach Afghanistan vom 10. bis 26.12.2005 beruht, u.a. aus, die Hindus seien heute in Afghanistan einer expliziten religiösen Diskriminierung ausgesetzt, die zum Ziel habe, sie als religiöse und kulturelle Minderheit innerhalb kürzester Zeit auszulöschen. Vor allem in ihrer Religionsausübung würden die Hindus massiv behindert. So gestatte ihnen die moslemische Bevölkerung in Kabul nicht mehr, die im Süden der Stadt gelegene Verbrennungsstätte für die Verstorbenen zu nutzen. Die staatlichen Stellen gewährten den Hindus auch keinerlei Schutz. Es werde systematisch versucht, die Kinder der Hindus von jedem Zugang zur Bildung fernzuhalten. Der Druck auf die Hindus gehe sogar bis zur Zwangsbekehrung von Kindern. Einst hätten in Kabul 10.000 Hindu- und Sikh-Kinder gelebt. Heute befänden sich in Kabul noch ca. 120 bis 150 Kinder dieser Glaubensrichtung. Sie seien schwer traumatisiert, völlig verängstigt und fürchteten sich, das Gelände ihrer Tempel zu verlassen, um nicht von den muslimischen Kindern drangsaliert und geschlagen zu werden. Die Hindus seien derart verängstigt, dass sie afghanische Kleidung trügen, ihre Frauen verschleierten und ihre Sprache und Kultur verleugneten. Um den Hindus und Sikhs ihre Lebensgrundlage zu entziehen, hätten bereits die Mujahedin eine systematische Enteignungspolitik betrieben. Seit dieser Zeit sei es den Hindus nicht möglich gewesen, ihr Eigentum zurückzuerhalten. Daher lebten die Hindus und Sikhs, die in Afghanistan verblieben seien, so gut wie ausschließlich in den ehemaligen Tempelbezirken ihrer Gemeinden. Nur noch in einem Tempel in Kabul würden religiöse Zeremonien durchgeführt, allerdings möglichst verstohlen, um nicht die Aufmerksamkeit der muslimischen Umgebung auf sich zu ziehen. Ein abgeschobener afghanischer Hindu könne sich allein noch in einem solchen Tempelbezirk aufhalten. Diese Tempel lägen aber praktisch in Trümmern und seien völlig zerschossen. Besonders Frauen und Kinder seien sichtlich von Krankheiten und Mangelernährung gekennzeichnet. Weder der Staat noch ausländische Hilfsorganisationen gewährten den Hindus die geringste Unterstützung. Die Tempel versuchten, ihre Gemeindemitglieder durch Mittel aus Almosen zu unterstützen, doch diese seien sehr gering und retteten die Bewohner kaum vor dem Verhungern. Offensichtlich sei es die Politik der afghanischen Regierung, das Problem zu ignorieren und darauf zu warten, dass sich die Hindu-Frage von selbst löse, indem die Hindus gezwungen würden, sich entweder vollkommen anzupassen oder das Land zu verlassen.

In dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan vom 21.06.2005 heißt es in diesem Zusammenhang, die früher in Kabul lebende Hindu- und Sikh-Minderheit gebe sich gegenwärtig praktisch nicht zu erkennen. Nach Auskunft der "Stiftung für Kultur- und Zivilgesellschaft", die sehr enge Beziehungen in die afghanische Hindu-Gemeinde unterhalte, gebe es gravierende Fälle von Diskriminierung gegen Hindus. Die Handlungen richteten sich gegen die Ausübung der religiösen Sitten und Gebräuche der Hindu-Minderheit. Hindu-Rückkehrer kämen häufig nur in den noch existierenden Hindu-Tempeln unter und lebten unter äußerst schwierigen Bedingungen.

Hiernach spricht alles dafür, dass Teile der moslemischen Bevölkerung Hindus in einer Weise drangsalieren, dass für diese ein Leben nur unter erbärmlichsten Umständen möglich ist und dass die staatlichen Stellen in Afghanistan gegen diese Drangsalierungen zumindest nichts unternehmen. Diese Drangsalierungen knüpfen offensichtlich an das religiöse Bekenntnis an.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 76, 143, 158 ff.) ist von einer religiös motivierten Verfolgung zwar nicht schon dann auszugehen, wenn die Religionsfreiheit, gemessen an der umfassenden Gewährleistung, wie sie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält, Eingriffen und Beeinträchtigungen ausgesetzt ist. Die Eingriffe und Beeinträchtigungen müssen hiernach vielmehr eine Schwere und Intensität aufweisen, die die Menschenwürde verletzt. Eine religiös motivierte Verfolgung, die auch nach § 60 Abs. 1 AufenthG von Relevanz ist, liegt aber etwa dann vor, wenn die Verfolgungsmaßnahmen darauf gerichtet sind, die Angehörigen einer religiösen Gruppe sei es physisch zu vernichten oder mit vergleichbar schweren Sanktionen (etwa Austreibung oder Vorenthaltung elementarer Lebensgrundlagen) zu bedrohen.

Eine solche Bedrohungssituation ergibt sich zumindest dann für Angehörige der Hindu-Minderheit, wenn diese nicht einen familiären Rückhalt haben, der ihnen ein Leben außerhalb der Tempel in Kabul ermöglicht. Die Ausführungen des Gutachters D., an denen zu zweifeln kein Anlass besteht, zumal sie auch nicht in Widerspruch zu dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes stehen, sprechen dafür, dass aufgrund der Religionszugehörigkeit Hindus in Afghanistan auf Lebensumstände treffen, die zu einer konkreten Gefahr für Leib und Leben führen. Da auch nichts dafür ersichtlich ist, dass der Kläger im Falle der Rückkehr nach Afghanistan außerhalb der Tempel unterkommen könnte (der Gutachter D. hält es sogar für zweifelhaft, ob die in Afghanistan in Armut und Elend lebenden Hindus überhaupt bereit seien, mit Rückkehrern aus Europa, die pauschal als "reich" betrachtet würden, ihre wenige Habe zu teilen), ist es dem Kläger im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (vgl. BVerwGE 89, 162) nicht zumutbar, angesichts der realen Möglichkeit, einer religiös motivierten Verfolgung ausgesetzt zu sein, nach Afghanistan zurückzukehren.

Soweit der Kläger die Aufhebung der ihm gegenüber ausgesprochenen Abschiebungsandrohung begehrt, ist die zulässige Anfechtungsklage unbegründet.

Die Abschiebungsandrohung ist nicht rechtswidrig, denn sie entspricht §§ 34 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylVfG. Gemäß § 34 Abs. 1 AsylVfG erlässt das Bundesamt nach den §§ 59, 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird und keinen Aufenthaltstitel besitzt. Der Kläger ist nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels. Die ihm eingeräumte Ausreisefrist, die nach § 59 Abs. 1 AufenthG Bestandteil der Abschiebungsandrohung ist, entspricht § 38 Abs. 1 AsylVfG. Hiernach beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist einen Monat. Im Falle der Klageerhebung endet die Ausreisefrist einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Die vorliegend bedingt ausgesprochene Abschiebungsandrohung soll nur dann vollzogen werden, wenn das Asylbegehren unanfechtbar abgelehnt worden ist. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (abgedruckt bei GK-AsylVfG, § 38), entspricht § 38 Abs. 1 AsylVfG inhaltlich § 28 Abs. 2 AsylVfG a. F. Dies gilt, obgleich der Wortlaut des § 38 Abs. 1 AsylVfG gegenüber § 28 Abs. 2 AsylVfG a. F. (dort heißt es: "nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Ablehnung", während es nunmehr heißt: "nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens") abweicht, denn die Abschiebung soll natürlich nur dann erfolgen, wenn das Asylverfahren keinen Erfolg hat (so auch: VGH Mannheim, Urteil vom 25.03.1994 - A 14 S 1957/93 -).

Zum Asylverfahren gehört gem. § 13 Abs. 2 AsylVfG auch die Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG. Wird das vorliegende Urteil rechtskräftig, so wird die Abschiebungsandrohung entsprechend der ihr beigefügten Bedingung gegenstandslos.