VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 27.04.2006 - B 3 K 06.30073 - asyl.net: M11071
https://www.asyl.net/rsdb/M11071
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Christen, Baptisten, Konversion, Apostasie, religiös motivierte Verfolgung, Religion, Religionsfreiheit, Anerkennungsrichtlinie, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Scharia, Missionierung, Überwachung im Aufnahmeland, Folgeantrag, Änderung der Sachlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; EMRK Art. 9 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

1. Die Asylanträge der Kläger zu 1.–4. vom 26. April 2005 stellen Folgeanträge im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylVfG dar, nachdem die ersten Asylanträge der Kläger zu 1.–3. vom 1. Oktober 2001 nach dem Beschluss des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs vom 17. Mai 2004 - Nr. 14 ZB 04.30756 - durch den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 24. Juni 2002, der erste Asylantrag des Klägers zu 4. nach dem Urteil des Bayer. Verwaltungsgerichts ... vom 18. Dezember 2003 - Nr. B 6 K 02.30963 - durch den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 29. Oktober 2002 unanfechtbar abgelehnt worden waren.

2. Die Kläger zu 1.–3. haben Anspruch auf Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 1 AufenthG.

Die Kläger zu 1.–3. sind, wie sich insbesondere aus dem Urteil des Bayer. Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 18. Dezember 2003 - Nr. B 6 K 02.30574 - ergibt, unverfolgt aus ihrem Heimatland ausgereist. Ihnen droht aber bei einer Rückkehr in den Iran wegen ihrer in Deutschland erfolgten Konversion vom Islam zum Christentum mit beachtlicherWahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Zunächst ist festzustellen, dass das Gericht keinerlei Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Übertritts der Kläger zum christlichen Glauben hat.

Wegen dieses Übertritts zum christlichen Glauben droht den Klägern zu 1.–3. bei Rückkehr in den Iran politische Verfolgung. Dabei ist von der islamischen Grundvorstellung auszugehen, wonach kein Unterschied zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft bzw. zwischen Religion und Politik besteht: Nach islamischem Verständnis stellt die Apostasie (der Abfall vom islamischen Glauben und die Hinwendung zu einer anderen Religion, meist zum Christentum) einen hochverratsähnlichen Angriff auf das Staats- und Gesellschaftssystem dar, der in der Regel mit der Todesstrafe bedroht ist (vgl. amnesty international, Stellungnahme für das VG Aachen vom 02. Februar 1999).

Wie das Auswärtige Amt auch in seinem neuesten Bericht vom 24. März 2006 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran feststellt, leben im Iran Muslime und Angehörige der drei weiteren durch die Verfassung anerkannten Religionsgemeinschaften (Christentum, Zoroastrismus und Judentum) im Wesentlichen friedlich nebeneinander. Die anerkannten religiösen Minderheiten genießen Kultusfreiheit. Demgegenüber können Mitglieder der religiösen Minderheiten, denen zum Christentum konvertierte Muslime angehören und die selbst offene und aktive Missionierungsarbeit unter Muslimen im Iran betreiben, staatlichen Repressionen ausgesetzt seien. Dies gilt für alle missionierenden Christen, unabhängig davon, ob es sich um konvertierte oder nicht konvertierte handelt. Nach Aussage von Vertretern einzelner christlicher Gemeinden findet Missionierungsarbeit insbesondere durch Angehörige evangelistischer Freikirchen (z. B. die Assembly of God) statt. Hierzu gehören nach dem Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 26. Februar 1999 z.B. auch die Angehörigen der Pfingstgemeinde sowie nach der Stellungnahme von amnesty international vom 10. März 2000 (für das VG Münster) die Zeugen Jehovas. Nach Ansicht des Gerichts zählen hierzu auch die Baptisten, da es auch zum Selbstverständnis dieser Religionsgemeinschaft gehört, missionierend tätig zu werden, wie dem Gericht aus zahlreichen Verfahren bekannt ist und wie sich auch aus der vom Kläger zu 1. vorgelegten Bestätigung der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde ... vom 20. Februar 2005 ergibt. Was unter „missionierender Tätigkeit“ zu verstehen ist, könnte zweifelhaft sein. Nach Auffassung des Gerichts fällt darunter auch das öffentliche Bekenntnis zum christlichen Glauben (vgl. dazu unten).

Zwar schreibt das Deutsche Orient-Institut in seinem Gutachten vom 26. Februar 1999, ebenso auch amnesty international vom 2. Februar 1999, dass ein in den Iran zurückkehrender Apostat in gesellschaftlich-sozialer Hinsicht bzw. im Hinblick auf den Verkehr mit iranischen Behörden unbehelligt leben kann, wenn er seine Religionszugehörigkeit verschweigt oder verleugnet. Ob dies auch heute noch gilt, erscheint angesichts dessen, dass nach dem o.a. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. März 2006 seit der Wahl von Mahmoud Ahmadinejad zum Präsidenten das radikal-konservative Lager die entscheidenden Machtpositionen übernommen hat, eher fraglich. Ein derartiges "Verschweigen bzw. Verleugnen" der Religionszugehörigkeit ist jedoch dem Einzelnen aufgrund des in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verankerten Menschenrechtes der Religionsfreiheit (die nach Art. 9 Abs. 1 EMRK auch die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben) nicht zumutbar. Nach der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Durchführung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalem Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 29. April 2004 (ABl. L 304 vom 30.9.2004, Seite 12), die nach Art. 38 Abs. 1 spätestens bis 10. Oktober 2006 in nationales Recht umgesetzt werden muss, umfasst "der Begriff Religion ... die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf die religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind", so Art. 10 Abs. 1 Buchst. b. Diese Richtlinie kann bereits jetzt zur Auslegung des Begriffs der Religionsfreiheit herangezogen werden.

Wenn die Kläger zu 1.–3. als Konvertiten bei einer Rückkehr in den Iran von ihrer Religionsfreiheit in dieser Weise Gebrauch machen oder wenn die Konversion der Kläger vom Islam zum Christentum den Behörden auf andere Weise bekannt wird – im Falle der Kläger, deren Glaubensübertritt sich durch die Teilnahme an zahlreichen Gottesdiensten, Bibelstunden u.a. manifestiert hat, ist das Gericht davon überzeugt, dass dies dem iranischen Gemeindienst, der die Auslandsaktivitäten iranischer Staatsbürger sorgfältig überwacht, vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, Stellungnahme vom 2. Juli 1999 für das VG Ansbach, amnesty international vom 2. Februar 1999, nicht verborgen geblieben ist –, so droht den Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Dabei ist es nach Auffassung des Gerichts unerheblich, ob die Verfolgungsmaßnahmen vom iranischen Staat selbst oder von nichtstaatlichen Akteuren, etwa fundamentalistischen Kräften, herrühren, da der iranische Staat jedenfalls nicht willens ist, vor derartigen Verfolgungsmaßnahmen Schutz zu bieten (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG).