BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 16.05 - asyl.net: M11073
https://www.asyl.net/rsdb/M11073
Leitsatz:
Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Anwendungszeitpunkt, Zuwanderungsgesetz, Ermessen, Unverzüglichkeit, Jahresfrist, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungszusammenhang, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, Christen, Irak, Antragstellung als Asylgrund, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, allgemeine Gefahr, Hypertonie, Herzerkrankung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Revision ist begründet.

2. Wie der Senat in dem gleichzeitig ergehenden Urteil des Verfahrens BVerwG 1 C 15.05 näher ausgeführt hat, ist die Abweisung der Klage durch das Berufungsgericht mit Bundesrecht nicht vereinbar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

d) Ob der Widerruf im Übrigen den gesetzlichen Anforderungen aus § 73 Abs. 1 AsylVfG entspricht und das Bundesamt deshalb zugleich befugt war, über das Bestehen von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) zu entscheiden, kann der Senat auch im vorliegenden Verfahren auf der Grundlage des Berufungsurteils nicht abschließend selbst beurteilen.

aa) Zwar verfehlt das angefochtene Urteil nicht bereits in seinem Ansatz die vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - (ZAR 2006, 107, zur Veröffentlichung in den Entscheidungssammlungen BVerwGE und Buchholz vorgesehen) klargestellten Maßstäbe zur Auslegung der Widerrufsermächtigung in § 73 Abs. 1 AsylVfG. Danach durfte das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner im Revisionsverfahren nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und für das Revisionsgericht bindenden (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) tatrichterlichen Feststellungen und Prognosen annehmen, dass die im Anerkennungsbescheid angenommene ursprüngliche Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr in den Irak wegen der Asylantragstellung in Deutschland mit der Beseitigung des Saddam-Regimes inzwischen weggefallen ist und insofern die dargelegten Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen.

bb) Hingegen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, dass dem Kläger – bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung Ende Mai 2005 – bei einer Rückkehr in den Irak nicht erneut eine (andere) Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht, mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang vereinbar. Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof im Ausgangspunkt zutreffend geprüft, ob dem Kläger nunmehr bei einer Rückkehr in den Irak eine (Gruppen) Verfolgung als Christ durch nichtstaatliche Akteure droht. Den hierzu im Urteil des Verfahrens BVerwG 1 C 15.05 entwickelten Anforderungen wird das Berufungsurteil indessen nicht gerecht. Der Verwaltungsgerichtshof hätte seine Entscheidung nicht ohne genauere Feststellungen zu Art, Umfang und Gewicht der Verfolgungshandlungen treffen dürfen und diese zu der Zahl der irakischen Christen in Beziehung setzen müssen.

3. Für das weitere Verfahren bemerkt der Senat:

a) Zu Recht hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Prüfung, ob dem Kläger heute bei einer Rückkehr in den Irak eine Gruppenverfolgung als Christ droht, den allgemeinen (Prognose-) Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegt und nicht den erleichterten sog. herabgesetzten oder herabgestuften Maßstab der hinreichenden Sicherheit vor erneuter bzw. wiederholter Verfolgung (vgl. im Einzelnen das Urteil im Verfahren BVerwG 1 C 15.05).

c) Im Hinblick auf die ärztlich attestierten Erkrankungen (Hypertonie und Herzinsuffizienz) hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt (UA S. 13), der Kläger könne sich auf deren Nichtbehandelbarkeit im Irak auch deshalb nicht berufen, weil er "von einer schlechteren medizinischen Versorgung gleichermaßen wie alle Iraker betroffen" wäre, "die an Bluthochdruck und an einem schwachen Herzen leiden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG)". Hierzu weist der Senat darauf hin, dass mit dieser Begründung die unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen einer dem Kläger individuell drohenden erheblichen Leibes- oder Lebensgefahr wegen Verschlechterung seines Gesundheitszustands im Irak nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht verneint werden kann. Danach sind zielstaatsbezogene Krankheitsfolgen in der Regel als individuelle Gefahren im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzusehen (vgl. etwa schon Urteil vom 9. September 1997 BVerwG - 9 C 48.96 InfAuslR 1998, 125 <dialysepflichtige Niereninsuffizienz>; Urteil vom 25. November 1997 - BVerwG 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383 <angeborener Herzfehler/Vorhofseptumdefekt>; Urteil vom 29. Juli 1999 - BVerwG 9 C 2.99 - juris <u. a. Folgen von Total-Endoprothesen-Operationen, Diabetes mellitus und Immunthrombozytopenie>). Nur ausnahmsweise sind sie als eine allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu qualifizieren, namentlich etwa bei Aids (vgl. Urteil vom 27. April 1998 - BVerwG 9 C 13.97 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 12 = NVwZ 1998, 973). Nach der Aids-Entscheidung vom 27. April 1998 a.a.O. kommt bei Krankheiten die Annahme einer die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auslösenden Allgemeingefahr nur in Betracht, wenn die Gefahr "einer großen Zahl der im Abschiebezielstaat lebenden Personen gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potenziell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums befunden werden soll". Das ist nicht gleichsam automatisch schon dann der Fall, wenn im Heimatland viele Menschen betroffen sind, sondern nur dann, wenn "es – anders als bei zwar nicht singulären, aber wenig verbreiteten Krankheiten und solchen Erkrankungen, die unter ausländerpolitischen Gesichtspunkten eine Befassung der obersten Landesbehörden sowie eine (bundes-) einheitliche Praxis nicht erfordern ... einer politischen Leitentscheidung nach § 54 AuslG" (jetzt § 60a Abs. 1 AufenthG) bedarf. Nur dann – bei einer großen Anzahl potenziell Betroffener und einem ausländerpolitischen "Leitentscheidungsbedürfnis" – soll § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht anwendbar, sondern durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gesperrt sein mit der Folge, dass die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Einzelfall durch die Ausländerbehörde (und bei Asylbewerbern durch das Bundesamt hinsichtlich der Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen) ausscheidet. Etwas anderes gilt in diesen Fällen, in denen die Sperrwirkung eingreift, nur dann, wenn im Abschiebezielstaat für den Ausländer (entweder aufgrund der allgemeinen Verhältnisse oder aufgrund von Besonderheiten im Einzelfall, vgl. Urteil vom 21. September 1999 - BVerwG 9 C 9.99 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 22 und Urteil vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 4.98 - BVerwGE 108, 77 <83> = Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 13 S. 65 f.) landesweit eine extrem zugespitzte Gefahr wegen einer notwendigen, aber nicht erlangbaren medizinischen Versorgung zu erwarten ist. Unter solchen Umständen ist Abschiebungsschutz – soweit er nicht in vergleichbarer Weise anderweitig besteht, wie der Verwaltungsgerichtshof auch in diesem Zusammenhang zutreffend prüft – in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.