VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.05.2007 - A 2 S 69/07 - asyl.net: M11084
https://www.asyl.net/rsdb/M11084
Leitsatz:

Christen steht eine inländische Fluchtalternative im Nordirak offen (Fortsetzung der Rspr. des Senats); im Irak herrscht kein bewaffneter Konflikt i.S.d. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, allgemeine Gefahr, Christen (katholische), Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Nordirak, Anerkennungsrichtlinie, Zumutbarkeit, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Erlasslage, Abschiebungsstopp, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3 Bst. c; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Christen steht eine inländische Fluchtalternative im Nordirak offen (Fortsetzung der Rspr. des Senats); im Irak herrscht kein bewaffneter Konflikt i.S.d. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, da der Widerruf der Feststellung, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch hat das Bundesamt im angefochtenen Bescheid zu Recht festgestellt, dass in der Person des Klägers Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (jetzt: Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5, 7 AufenthG und Art. 15 c) der Richtlinie 2004/83/EG) nicht vorliegen.

Der Zulässigkeit des Widerrufs kann auch die Gefahr erneuter Verfolgung nicht entgegengehalten werden (vgl. zur erneuten Verfolgung BVerwG, Urteil vom 1.11.2005, aaO). Dem Kläger als Angehörigen der assyrisch-katholischen Glaubensgemeinschaft droht zwar bei einer Rückkehr nach Bagdad mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch nichtstaatlicher Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 c) AufenthG; die Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (BVerwG, Urteil vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 -, InfAusR 2007, 33). Dem Kläger steht allerdings in den kurdisch regierten Landesteilen im Norden des Iraks eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 c) AufenthG nach Maßgabe der Auslegungskriterien nach Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG zur Verfügung.

Die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative innerhalb der EG ist nunmehr am Maßstab des Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG zu messen. Denn diese Vorschrift ist infolge Ablaufs der Umsetzungsfrist der Richtlinie am 10.10.2006 (Art. 38 Abs. 1) unmittelbar anwendbar. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG können die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht, und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG berücksichtigen die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG ermächtigt die Mitgliedsstaaten zunächst grundsätzlich, den internationalen Schutz einzuschränken, wenn die betreffende Person in einem Teil des Herkunftslandes unter zumutbaren Umständen Schutz vor Verfolgung gefunden hat oder findet. Nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG kommt es nunmehr auf die am Ort des internen Schutzes bestehenden "allgemeinen Gegebenheiten" und zusätzlich auch auf die "persönlichen Umstände" des Asylsuchenden im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag an. Zur Interpretation des Begriffs der persönlichen Umstände kann auf Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG zurückgegriffen werden, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, bei der Entscheidung zugrunde zu legen sind. Zu fragen ist sodann auf der Grundlage dieses gemischt objektiv-individuellen Maßstabs, ob von einem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich am Ort der internen Fluchtalternative aufhält. Erforderlich hierfür ist , dass er am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Fehlt es an einer solchen Möglichkeit der Existenzsicherung, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben.

Dies entspricht im Wesentlichen der geltenden Rechtsprechung zu den Mindestanforderungen einer inländischen Fluchtalternative (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 25.10.2006 - A 3 S 46/06 - <juris>). Das Bundesverwaltungsgericht hat hierbei auch bisher schon die individuellen Umstände des Asylsuchenden in den Blick genommen. Nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, denen der Senat folgt, bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum grundsätzlich dann, wenn sie dort - was grundsätzlich zumutbar ist - durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Maßgeblich ist grundsätzlich auch nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde, vielmehr ist in tatsächlicher Hinsicht zu fragen, ob das wirtschaftliche Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.08.2006 - 1 B 96/06 - aaO), d.h. ob mit den erlangten Mitteln auch die notwendigsten Aufwendungen für Leben und Gesundheit aufgebracht werden können.

Gemessen an diesen Grundsätzen ist es dem Kläger - nach der gegenwärtigen Sachlage (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 20041831EG) - zuzumuten und kann von ihm daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in den kurdisch regierten Landesteilen im Norden des Iraks nimmt. Dort ist der Kläger vor politischer Verfolgung hinreichend sicher (vgl. Senatsurteil vom 21.6.2006 - A 2 S 571105 -, AuAS 2006, 175). Auch für den Zeitraum nach Ergehen des Senatsurteils gehen die dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen übereinstimmend davon aus, dass in den unter kurdischer Verwaltung stehenden Gebieten die Situation für Christen - im Vergleich zum Zentral- und Südirak - deutlich besser ist und eine Verfolgungsgefahr aus religiösen Gründen nicht gegeben ist (vgl. beispielhaft: EZKS vom 24.4.2006 an VG München; AA-Lagebericht vom 29.6.2006). Auch der UNHCR erkennt inzwischen an, dass die Rechte der christlichen Bevölkerung in den unter kurdischer Verwaltung stehenden Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya von staatlichen Stellen im Allgemeinen respektiert werden.

Für den Kläger ist auch sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet; in diesem Zusammenhang hat der beschließende Senat im rechtskräftigen Urteil vom 21.6.2006 (aaO) ausgeführt: ...

Die bei einer Gesamtschau der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten einschlägigen Erkenntnisquellen getroffene Einschätzung, Christen sei grundsätzlich eine Existenzgrundlage in den kurdisch regierten Landesteilen im Norden des Iraks eröffnet, wird auch nicht durch die Stellungnahmen des UNHCR (vgl. etwa vom 5.7.2006, Hintergrundinformation zur Situation der christlichen Bevölkerung im Irak, Stand Juni 2006) in Frage gestellt. In der Stellungnahme vom 5.7.2006 wird zwar ausgeführt, "Christen, die einer drohenden Verfolgung im Zentral oder Südirak zu entfliehen versuchten, fänden in den drei unter kurdischer Verwaltung stehenden nordirakischen Provinzen keine zumutbaren Lebensumstände, der Nordirak stelle vor diesem Hintergrund keine innerstaatliche Fluchtalternative dar". Diese Bewertung der Situation bleibt aber pauschal und substanzlos. Warum Christen dort keine zumutbaren Lebensumstände vorfinden und insbesondere warum für sie keine Existenzgrundlage eröffnet ist, wird nicht erläutert. Auch wird eine Tatsachengrundlage, aus der sich die Einschätzung des UNHCR ableiten ließe, nicht ansatzweise dargelegt.

Bei der allgemein unsicheren Lage, den terroristischen Anschlägen und den wirtschaftlich schlechten Lebensumständen im Heimatland des Klägers handelt es sich um Gefahren allgemeiner Art, die nicht zum Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führen können, weil ihnen die gesamte Bevölkerung des betroffenen Landes - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - ausgesetzt ist. Diese Umstände führen auch nicht ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt einer verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG zu einer Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, da dem Kläger aufgrund der baden-württembergischen Erlasslage ein der gesetzlichen Duldung nach §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60 a AufenthG entsprechender, gleichwertiger Abschiebungsschutz zuteil wird. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe im Senatsurteil vom 4.5.2006 (aaO) verwiesen.

Schließlich hat der Kläger auch keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach der Richtlinie 2004/83/EG. Als ernsthafter Schaden gem. Art. 15 c) der Richtlinie 2004/83/EG gilt u.a. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Gemessen daran kann bereits - wie oben dargelegt - eine "ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" des Klägers bei Rückkehr in den Irak nicht angenommen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.3.2007 - 1 B 104.06 -). Unabhängig davon ist auch hinsichtlich der kurdisch regierten Landesteile im Norden des Iraks, auf die der Kläger verwiesen werden kann, das Tatbestandsmerkmal der "willkürlichen Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts" nicht erfüllt. Die punktuellen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen - insbesondere zwischen Sunniten und Schiiten - beschränken sich bisher auf Teilgebiete im Zentral- und Südirak; dagegen sind die kurdisch verwalteten Gebiete des Nordiraks vergleichweise sicher, von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kann für diese Gebiete keine Rede sein (vgl. etwa AA-Lagebericht vom 29.6.2006; Stellungnahme des EZKS vom 24.4.2006 an VG München).