VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 27.04.2007 - 9 K 695/02.A - asyl.net: M11096
https://www.asyl.net/rsdb/M11096
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Genitalverstümmelung; Volkszugehörigkeit richtet sich bei gemischt-ethnischer Abstammung nach dem Vater.

 

Schlagwörter: Sierra Leone, Genitalverstümmelung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Krio, Mende, gemischt-ethnische Abstammung, Freetown, Schutzbereitschaft, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Genitalverstümmelung; Volkszugehörigkeit richtet sich bei gemischt-ethnischer Abstammung nach dem Vater.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) vorliegen. Im Falle einer Abschiebung der Klägerin nach Sierra Leone würde ihr die konkrete Gefahr einer Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.

In Anwendung dieser Maßstäbe steht es aufgrund des substantiierten und glaubwürdigen Vortrags der Mutter der Klägerin sowie nach Würdigung der eingeführten Erkenntnisse sachverständiger Organisationen und Stellen zur Überzeugung des Gerichts in dem vorliegenden Einzelfall fest, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Sierra Leone Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für einen längeren Zeitraum - wohl ca. bis zum 25. Lebensjahr - durch nichtstaatliche Akteure drohen. Es besteht die konkrete Gefahr, dass die Klägerin einer von ihr nicht gewollten Female Genital Mutilation (FGM) unterzogen werden wird. Bei qualifizierender Betrachtungsweise besitzen die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht und deshalb überwiegen sie gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen.

In Sierra Leone begegnet man kaum einer Frau, die nicht diesem Ritual unterzogen worden ist (vgl. zu dieser offensichtlich typischen Situation in Sierra Leone: Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Entscheidung vom 23. März 2005 - 3 UE 3457/04.A -, zitiert nach juris, Ausführungen der Eltern der dortigen Klägerinnen, mit weiteren Nachweisen).

Eine Ausnahme stelle lediglich der Stamm der Krio, eine Bevölkerungsgruppe von etwa 2 % der Gesamtbevölkerung, dar. Aber auch wenn in dem vorliegenden Fall die Mutter der Klägerin als Angehörige des Volkes der Krio nicht selbst unmittelbar zu der von Beschneidung gefährdeten Bevölkerungsschicht gehört, ist dies nicht auf ihre in Deutschland geborene Tochter übertragbar. Die Klägerin gehört dem Volksstamm der Mende an, der das Beschneidungsritual praktiziert. Nach der Erläuterung der Mutter der Klägerin hat diese die Volkszugehörigkeit, weil der Vater der Klägerin gleichfalls dem Volksstamm der Mende angehört. Die Volkszugehörigkeit des Vaters der Klägerin ist aus seiner Anhörung vom 14. November 2000 (Beiakte, Heft 1 im Verfahren 9 K 1858/04.A) ersichtlich. Dem entgegenstehende Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich; hinsichtlich der Volkszugehörigkeit ist in dem Asylantragsformular vom 23. Januar 2003 eingetragen "unbekannt".

Wie die Mutter der Klägerin weiter detailliert und substantiiert darstellte, hat ihr Mann bzw. dessen Familie die Entscheidungsgewalt. Die Mädchen werden beschnitten, unabhängig von den Anschauungen der Eltern, insbesondere unabhängig vom Willen der Mutter, die nach ihrer glaubwürdigen Einlassung noch weniger Einfluss ausüben kann. Nach den typischen Landesverhältnissen gehören die Kinder, insbesondere zu der jeweiligen Familie des Mannes, wie die Mutter der Klägerin glaubhaft ausfuhrt. Weiter weist die Mutter der Klägerin überzeugend daraufhin, dass ihr als nunmehr alleinstehende Mutter die Tochter von der Familie des Vaters entzogen werden würde, so dass sie gar keinen Einfluss auf eine Beschneidung bzw. deren Verhinderung nehmen kann.

Da die FGM-Inzidenz in Sierra Leone bei 80 bis 90 % liegt, also FGM nur in der Größenordnung von 10 bis 20 % nicht angewendet wird, der Großraum Freetown aber nahezu ein Drittel der gesamten Bevölkerung beherbergt, ergibt sich rein rechnerisch, dass auch die Hauptstadt von FGM nicht frei sein kann, eine innerstaatliche Fluchtalternative auch insofern ausscheidet. Bildung/Ausbildung und FGM-Abneigung der Eltern dürften zwar einen gewissen Einfluss auf die Abwendungswahrscheinlichkeit von FGM haben. Diese Aussage relativiert sich jedoch, wenn eine Familie gezwungen ist - hier eine alleinstehende Mutter mit zwei Töchtern von unterschiedlichen Vätern -, unter den Bedingungen der Tradition und der traditionellen Kultur zu leben. Dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die Durchsetzung der Werte und Normen der traditionellen Kultur von der traditionellen Gesellschaft erzwungen werden, vgl. dazu; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Entscheidung vom 23. März 2005 - 3 UE 3457/04.A -, zitiert nach juris, mit weiteren Nachweisen und Quellenangaben, wie in dem vorliegenden Einzelfall die Mutter der Klägerin anschaulich am Beispiel des Lebens der Großfamilien schildert. Bei der Genitalverstümmelung handelt es sich zwar nicht um staatliche Verfolgung, gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG sind Verfolgungsmaßnahmen von nicht staatlichen Akteuren jedoch auch relevant, soweit der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen sind nach der Auskunftslage für Sierra Leone ohne weiteres zu bejahen, da in Sierra Leone keinerlei Gesetze FGM verbieten und Genitalverstümmelung weiter von der Regierung geduldet wird (vgl. zu dieser Problematik: ebenda).

Die Verfolgung knüpft vorliegend an das Geschlecht im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG an, da von der Genitalverstümmelung ausschließlich Frauen und Mädchen betroffen sind. Sie fuhrt auch zu einer Bedrohung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit sowie der Freiheit der betroffenen Personen, da Genitalverstümmelungen immer mit schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen verbunden sind und in einem gewissen Umfang sogar tödlich enden. FGM stellt eine erhebliche und gezielte Rechtsverletzung dar. Sie wird sowohl von Menschenrechtlern als auch von Medizinern heftig kritisiert, da diese Praktik einen tiefen Eingriff in die physische und psychische Integrität von Mädchen und Frauen bedeutet, dessen Auswirkungen für die Betroffenen meist mit großen Qualen verbunden ist und sie ein Leben lang verfolgt.