VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 24.04.2007 - M 23 K 06.50992 - asyl.net: M11097
https://www.asyl.net/rsdb/M11097
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Widerruf, Ablehnungsbescheid, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Christen (katholische), Konversion, Apostasie, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, religiös motivierte Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 5; VwVfG § 49 Abs. 1
Auszüge:

Der Bescheid des Bundesamtes vom 29. August 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Klagepartei hat Anspruch auf die begehrte Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (§113 Abs. 5 VwGO).

1. Die Beklagte ist zum Widerruf des Bescheides vom 1. September 1998 und zu der Feststellung verpflichtet, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen (§ 51 Abs. 5, § 49 Abs. 1 VwVfG). Das Ermessen der Beklagten ist auf Null reduziert, weil das Festhalten an dem Bescheid vom 1. September 1998 unter Berücksichtigung der nun mehr gegebenen Sach- und Rechtslage zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führt. Denn die Beklagte hat zu Recht im Bescheid vom 4. November 2005 festgestellt, es sei davon auszugehen, dass Eltern und Geschwister des Klägers im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgesetzt sein würden. Demzufolge würde auch der Kläger zwangsläufig durch eine Verfolgung nichtstaatlicher Akteure bedroht sein, zumal er seit dem Jahre 1998 der römisch-katholischen Kirche angehört.

2. Art. 2 der afghanischen Verfassung bestimmt in Absatz 1, dass der Islam Staatsreligion Afghanistans ist. Das in Absatz 2 den Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften eingeräumte Recht, im Rahmen der Gesetze ihren Glauben auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen, steht unter Gesetzesvorbehalt. Art. 3 enthält einen so genannten Islamvorbehalt, wonach Gesetze nicht "dem Glauben und den Bestimmungen des Islam" zuwiderlaufen dürfen. Auf die Scharia wird zwar nicht ausdrücklich Bezug genommen. Art. 130 der Verfassung sieht jedoch für den Fall, dass keine andere gesetzliche Norm anwendbar ist, die Anwendung der Scharia in den Grenzen der Verfassung vor. Konversion wird nach der Scharia als Verbrechen am Staat betrachtet, für das die Todesstrafe droht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.12.2004 an das VG Hamburg). Im März 2006 wurde der afghanische Staatsangehörige Abdul Rahman wegen Konversion zum Christentum angeklagt. Der für den Prozess zuständige Richter äußerte sich gegenüber Journalisten dahingehend, der Beschuldigte habe in der Verhandlung gestanden, dass er sich vom Islam entfernt habe und nun Christ sei, für welches Verhalten es nach der Scharia nur den Tod als Strafe gebe ("Konservative fordern Eingreifen Bushs", Spiegel online vom 23.03.2006). Nach Aussage einer Parlamentarierin bestanden die meisten Abgeordneten auf einer Hinrichtung (SZ-Online-Ausgabe vom 29.03.2006 "Rahman in Italien eingetroffen"). "Abtrünnige vom Islam" müssen darüber hinaus landesweit mit Übergriffen rechnen (Dr. Danesch vom 13. 05. 2004).

Das Gericht ist auch überzeugt davon, dass der Kläger seinen Glauben bei einer Rückkehr in sein Heimatland nicht wird geheim halten können. Es kann schon nicht ausgeschlossen werden, dass von hier lebenden Afghanen, denen der Glaubensabfall des Klägers bekannt geworden ist, dies bereits in die Heimat berichtet worden ist (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16.01.2006 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Hinzukommt, dass die durch den Vater des Klägers publizierte, islamkritische Haltung die Gefahr erhöht, dass islamistische Extremisten die Familie und mithin auch den Kläger "ins Visier nehmen" (vgl. Seite 2 des Bescheides vom 04.11.2005). Der Kläger wäre deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in seiner Freiheit oder in seinem Leben bei einer Rückkehr nach Afghanistan bedroht. Der Kläger würde außerdem einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt sein.