OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.04.2007 - 20 A 2199/06.A - asyl.net: M11098
https://www.asyl.net/rsdb/M11098
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Berufung, Beschluss, mündliche Verhandlung, Befangenheitsantrag, Sachverständige, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, IMK-Beschluss, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, Kabul, Situation bei Rückkehr, Racheakte, Kommunisten, DVPA, Mitglieder, PSDP, Sicherheitslage, Versorgungslage, Wohnraum, Kriminalität, medizinische Versorgung, IOM, RANA-Programm, religiös motivierte Verfolgung, alleinstehende Frauen, Krankheit
Normen: VwGO § 130a; VwGO § 98; ZPO § 406; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a VwGO durch Beschluss. Denn er hält die Berufung der Beklagten einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.

Die Stellungnahme des Klägers zu einer Entscheidung des Senats im Wege des Beschlusses gibt weder Anlass zu einer nochmaligen Anhörungsmitteilung noch zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Der Kläger wiederholt und bekräftigt insofern früheres Vorbringen. Die von ihm aufgeworfenen Fragen rechtlicher Natur und das unterbreitete Material zur Tatsachenfeststellung decken sich in ihrem Kerngehalt mit dem, was in der dem Kläger mitgeteilten und von ihm zum Teil auch aufgegriffenen Rechtsprechung des Senats behandelt worden ist.

Den Befangenheitsantrag gegen den IOM-Mitarbeiter, dessen Angaben durch die Einführung der Niederschrift über die Verhandlung mit seiner Vernehmung neben zahlreichem anderen Material Gegenstand der Überzeugungsbildung des Senats war und entsprechend der Materialeinführung in die vorliegende Sache auch hier berücksichtigt werden soll, hat der Kläger nur vorsorglich und in Hinblick auf ihn als "Gutachter" gestellt. Da eine Heranziehung des Betreffenden als Sachverständiger - und nur bei einem solchen käme eine Ablehnung in Betracht, § 98 VwGO, § 406 ZPO - nie im Raume stand, es vielmehr immer nur um die Einbeziehung eines schriftlichen Dokuments mit dem Gewicht der ihm zuzubilligenden Überzeugungskraft in die richterliche Überzeugungsbildung ging und geht, § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1 VwGO, tritt der vorsorglich abgesicherte Fall nicht ein.

Die Berufung ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Die Klage ist hinsichtlich des Begehrens festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG - diese Vorschrift ist am 1. Januar 2005 an die Stelle von § 53 Abs. 6 AuslG getreten, § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in der Fassung des Art. 3 Nr. 20 sowie Art 15 Abs. 3 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I 1950) - vorliegen, unbegründet; die weiteren Begehren, die der Kläger zweitinstanzlich angebracht hat, bleiben ebenfalls ohne Erfolg.

Allerdings erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - auch insoweit der Normstruktur des § 53 Abs. 6 AuslG entsprechend - nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch bei einer allgemeinen Gefahr ausnahmsweise dann nicht gesperrt, wenn die Situation im Zielstaat der Abschiebung so extrem ist, dass die Abschiebung den Einzelnen "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde".

Die extreme Gefahrenlage ist insbesondere geprägt durch einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad und die - freilich nicht mit dem zeitlichen Verständnis eines sofort bei oder nach der Ankunft eintretenden Ereignisses gleichzusetzende - Unmittelbarkeit eines Schadenseintritts (Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1, und Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 617.98 -, NVwZ 1999, 668).

Sie scheidet allerdings von vornherein aus, wenn gleichwertiger Schutz vor Abschiebung anderweitig durch eine erfolgte Einzelfallregelung oder durch einen Erlass vermittelt wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, NVwZ 2001, 1420, und - die Rechtsprechung zur extremen Gefahrenlage zusammenfassend - vom 10. Oktober 2004 -1 C 15.03 -, NVwZ 2005, 462).

Diese Ausnahme dürfte vorliegend auch unter Berücksichtigung der Beschlusslage der Innenministerkonferenz und deren landesinterner Umsetzung nicht eingreifen. Die im Beschluss der Innenministerkonferenz vom 24. Juni 2005 vorgesehene Abfolge von Abschiebungen bestimmter Personengruppen kann nicht mehr als die Erwartung tragen, noch eine gewisse Zeit in Deutschland verbleiben zu können, und bietet so keine (vorübergehende) Sicherheit, die der Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG gleichkommt.

Die Qualifikationsrichtlinie beansprucht nach Ablauf der Umsetzungsfrist nunmehr zwar Beachtung, führt aber auch nicht zur Zuerkennung des begehrten Schutzes. Dazu bedarf es aus Anlass des vorliegenden Verfahrens nicht der abschließenden Klärung, ob und in welchen Konstellationen die Handhabung des vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Kriteriums der extremen Gefahr tatsächlich dazu führen kann, dass einem Schutzsuchenden entgegen Art. 18 der Richtlinie der subsidiäre Schutzstatus vorenthalten bleibt. Dem in der Fragestellung sehr weit gefassten Hilfsbegehren des Klägers, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, ist nicht zu folgen; auch besteht mangels Entscheidungsrelevanz kein Anlass, eine unter dem Aspekt der Auslegung der Richtlinie eventuell geeignete Frage, nämlich diejenige nach der Zulässigkeit des Kriteriums eines extremen Charakters von Gefahren, die aus willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts resultieren (Art. 15 Buchst, c) der Richtlinie) und denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt ist (Erwägungsgrund 26 zur Richtlinie), vorzulegen. Denn Art. 15 der Richtlinie bleibt insbesondere in Buchst, c) - auch unter Berücksichtigung des weiten Verständnisses der Begriffe innerstaatlicher bewaffneter Konflikt und willkürliche Gewalt, wie es klägerseitig vertreten wird - wegen der vorbezeichneten Spezifizierung der beachtlichen Anknüpfungspunkte für relevante Gefahren hinter § 60 Abs. 7 AufenthG zurück, der ohne Blick auf Anlass oder Hintergrund allein auf die drohende Beeinträchtigung bestimmter Rechtsgüter abhebt. In Bezug auf die nicht durch willkürliche Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bestimmten Bedrohungssituationen für die Bevölkerung oder eine bestimmte Gruppe ist gegen die in der innerstaatlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung herausgestellten Maßstäbe allein mit Blick auf die Qualifikationsrichtlinie jedenfalls nichts zu erinnern (vgl. dazu Hessischer VGH, Urteil vom 9. November 2006 - 3 UE 3238/03.A -).

Eine den Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unmittelbar genügende individuelle, also gerade in den klägerischen persönlichen Eigenschaften und Verhältnissen angelegte Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht bezogen auf die Verhältnisse in Kabul nicht.

Der Kläger sieht sich durch Sippenhaft und Blutrache gefährdet, weil er einer als "kommunistisch" geltenden, bekannten Familie angehöre. Abgesehen davon, dass eine Zurechnung zu "Kommunisten" unter den Bedingungen von Afghanistan einschließlich der Nachwirkungen des früheren Bürgerkrieges und des ehemaligen kommunistischen Regimes ein Merkmal ist, das größere Bevölkerungsgruppen als mögliche Gegner innerhalb von Auseinandersetzungen und als potentielle Opfer von Nachstellungen kennzeichnet, hat der Kläger nichts Konkretes dargetan, was Dritten einen Anlass bieten könnte, wegen früheren Verhaltens von Angehörigen gerade auf ihn zuzugreifen. Ebenso ist, was die Mitgliedschaft des Klägers in der DVPA anbelangt, unabhängig davon, dass es sich hierbei um eine das ehemalige Regime tragende Massenorganisation mit einer großen Anzahl von Mitgliedern handelt, nichts Greifbares erkennbar, was eine Gefährdung des Klägers wahrscheinlich machen könnte. Im Hinblick auf die Mitgliedschaft des Klägers in der PSDP fehlt es ungeachtet dessen, dass die solchermaßen gegen islamistische Kräfte gerichtete Parteinahme im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen jenseits der spezifischen Rolle der PSDP auf ein allgemeines Gefährdungsmerkmal verweist, ebenfalls an einer über die bloße Mitgliedschaft hinausgehenden Tätigkeit, die den Schluss auf eine wahrscheinliche Beeinträchtigung durch gegnerische Kräfte tragen könnte.

Der Senat, der sich mit der Frage des verfassungsrechtlich gebotenen Abschiebungsschutzes für afghanische Staatsangehörige wiederholt befasst hat, hat nach Betrachtung auch der spezifischen Umstände verschiedener Gruppen eine extreme Gefahrenlage lediglich in besonders gelagerten Einzelfällen anerkannt, z. B. bei alten, behinderten und schwer erkrankten Personen ohne für eine Hilfestellung in Betracht kommende Bezugspersonen in Afghanistan (vgl. dazu Urteil vom 15. Mai 2003 - 20 A 3332/97.A -).

Es ist nicht festzustellen, dass die Einschätzung des Senats insgesamt oder für bestimmte bisher schon gesondert betrachtete Gruppen wegen einer gravierenden und schon relevanten Veränderung der Verhältnisse zum Schlechteren der Korrektur bedarf und nunmehr Schutz im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG gewährt werden muss. Die allgemeinen Lebensbedingungen haben sich nicht in einer Weise entwickelt, dass sie für den Einzelnen jetzt einen triftigen Grund für die Annahme bieten, alsbald schwere Beeinträchtigungen erleiden zu müssen.

Der Senat verbleibt daher auch nach Auslaufen des von David (vom 27.03.2006) geschilderten Hilfsprogramms von IOM, das zwischenzeitlich bis Ende April 2007 verlängert worden ist (IOM vom 7.12.2006) und einer relevanten Zuspitzung der Gefahrenlage jedenfalls entgegenstand (vgl. Urteil des Senats vom 5. April 2006 - 20 A 5161/04.A -) bei seiner Einschätzung, dass für Rückkehrer aus Deutschland nach Afghanistan nicht allgemein die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG bejaht werden können. Die möglichen Feststellungen tragen nicht den von der Vorinstanz gezogenen Schluss, Personen, die nicht in einem funktionierenden Familien- oder Stammesverband Aufnahme finden, gerieten in Afghanistan in eine völlig aussichtslose Lage (im Ergebnis jedenfalls für männliche Flüchtlinge mittleren Alters ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Mai 2006 - 12 B 9.05 - und Sächsisches OVG, Urteil vom 23. August 2006 - A 1 B 58/06 -; in der Wertung abweichend etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 9. November 2005 - A 10 K 12302/03 -).

Allerdings ist nicht auszuschließen, dass eine solche Situation bei Hinzukommen besonderer Umstände eintritt. Dazu bedürfen verschiedene Anknüpfungspunkte der gesonderten Betrachtung.

Eine im Rahmen der Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG relevante Zuspitzung in Anknüpfung an Volks- oder Religionszugehörigkeit ist nicht festzustellen.

Eine im vorliegenden Zusammenhang relevante Zuspitzung der Lage hinsichtlich der Existenzbedingungen ist - vorbehaltlich besonderer Umstände - für Frauen konkret zu befürchten, die ohne männliche Begleitung nach Afghanistan zurückkehren müssen und nicht in intakten Strukturen Aufnahme finden. Denn alleinstehende Frauen sind in hohem Maße schon dann gefährdet, wenn sie die erforderlichen Schritte zur Beschaffung des Lebensnotwendigen unternehmen.

Von einer relevanten Zuspitzung der Lage ist ferner bei Erkrankungen auszugehen, die eine die Grundelemente in Behandlung und Medikamenten übersteigende Versorgung erfordern.

Weitere Zuspitzungen können sich noch aus Umständen ergeben, die ihrer Art nach schon andere, regelmäßig vorrangige Schutzgründe - Asyl oder § 60 Abs. 1 bis 3 und 5 AufenthG - tragen könnten, dort aber aus welchen Gründen außer mangelnder Glaubhaftigkeit auch immer nicht zum Erfolg geführt haben.