VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 18.04.2007 - 2 E 1245/06.A(1) - asyl.net: M11102
https://www.asyl.net/rsdb/M11102
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, rechtliches Gehör, Prozessbevollmächtigte, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, Situation bei Rückkehr, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Kabul, Kriminalität, Existenzminimum, Wohnraum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässige Klage ist begründet (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Bescheid des Bundesamtes vom 09.06.2006, der in Ermangelung einer vorliegenden Entscheidung über Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nach rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 04.10.2005 hierzu von sich aus eine den Kläger beschwerende Entscheidung getroffen hat, ist aufzuheben. Fraglich ist hierbei, ob die dem Bescheid zu Grunde liegende Annahme, dass dem Kläger rechtliches Gehör gewährt worden sei, indem seinem früheren Bevollmächtigten ein Anhörungsschreiben zugeleitet worden war, zutreffend ist. Zwar hatte der Kläger als früherer Beigeladener in dem Klageverfahren des Bundesbeauftragten Rechtsanwalt Vollmacht erteilt, jedoch erstreckt sich diese nicht über das rechtskräftige Urteil in diesem Verfahren in selbstverständlicherweise hinaus. Das Gericht hat davon abgesehen, den Bescheid schon aus diesem formalen Grund aufzuheben, denn der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG ist auch materiellrechtlich begründet.

Allerdings führen gemäß § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nicht solche Gefahren zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach S. 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist. Grundsätzlich wird in diesen Fällen Abschiebungsschutz ausschließlich durch die generelle Regelung der obersten Landesbehörden nach § 60 a AufenthG gewährt, beziehungsweise dann, wenn das Verfassungsrecht dies ausnahmsweise gebietet, weil die oberste Landesbehörde trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, von ihrer Ermächtigung nach § 60 a AufenthG keinen Gebrauch gemacht hat. Dies wird angesichts der katastrophalen Sicherheits- und Versorgungslage mittlerweile von einigen Verwaltungsgerichten wieder generell für Rückkehrer nach Afghanistan angenommen (vergleiche VG München, Beschluss vom 18.04.2006 - 8 Q 2647/06 in Juris, VG Meiningen, Urteil vom 16.11.2006 - 8 K 2639/03 Me in Juris).

Für den vorliegenden Fall kann dies dahingestellt bleiben, weil jedenfalls individuell für den Kläger gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG die Unzumutbarkeit einer Rückkehr nach Afghanistan wegen der Verhältnisse im Zielstaat zu befürchten ist. An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Kläger im jugendlichen Alter von 16 Jahren Afghanistan verlassen hat, damals hauptsächlich, um einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban zu entgehen. Mittlerweile hat der Kläger, dessen Vater verstorben ist, nicht einmal mehr den Schutz und die Fürsorge seiner wesentlich älteren Brüder zu erwarten, die entweder in Deutschland, in Russland oder in Pakistan leben. In seiner Heimatstadt Kabul, wo nach dem Gutachten des Dr. Mostafa Danesch an den Hess. VGH vom 04.12.2006 mittlerweile fast dieselbe Rechtlosigkeit herrscht wie in anderen Teilen Afghanistans, wäre der Kläger, der nach fast sechsjährigem gesichertem Aufenthalt in ruhigen Verhältnissen in Deutschland erst erwachsen geworden ist, einer extremen Gefährdung an Leib und Leben ausgesetzt. Der Gutachter Dr. Danesch weist darauf hin, dass die Auffassung des Bundesamtes und der meisten Verwaltungsgerichte, dass junge erwachsene gesunde Männer noch am ehesten mit den prekären Verhältnissen in Afghanistan zurecht kommen könnten, in dieser Pauschalität unrichtig ist, weil gerade sie häufig wegen ihres westlichen Aussehens und Auftretens für reich gehalten werden und deshalb besonders leicht das Opfer von Überfällen und Plünderungen werden. Dieser Einschätzung sind mehrere Verwaltungsgerichte bereits gefolgt (VG Meiningen aaO; VG München aaO; auch HessVGH, Beschl.v. 14.12.2006 im Eilverfahren; VG Darmstadt, Urt. v.31.01.2007 - AZ 2 E 2026/05 -). Dies gilt nach Überzeugung des Gerichts auch für den Kläger. Gerade die Sozialisation im westlichen Ausland während der entscheidenden Jahre des Heranwachsens macht es für den Kläger nahezu aussichtslos, mit den äußerst gefährlichen Verhältnissen in Kabul zurechtzukommen. Überdies ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch (geschätzt 80 %), und sehr viele Männer ohne familiäre Bindungen versuchen auf die eine oder andere Weise mit Gelegenheitsarbeiten so eben ihr Existenzminimum zu sichern. Hierfür bedarf es bestimmter Fertigkeiten und Kenntnisse des Alltagslebens, die der Kläger mit Sicherheit nicht hat. Schließlich ist noch auf die katastrophale Wohnungslage in der Millionenstadt Kabul zu verweisen und die Tatsache, dass die Flüchtlingslager so überfüllt sind, dass Personen in vermuteter noch größerer Notlage, etwa alte oder kranke Menschen oder Familien mit Kindern mit Sicherheit bei der Aufnahme gegenüber dem Kläger den Vorzug hätten.