VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 17.04.2007 - 2 E 2419/03.A(1) - asyl.net: M11103
https://www.asyl.net/rsdb/M11103
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Sicherheitslage, Versorgungslage, Kabul, Situation bei Rückkehr, Wohnraum, RANA-Programm, IOM, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Frauen, Flüchtlingsfrauen, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Demgegenüber sind Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nach S. 2 der genannten Vorschrift nur bei Entscheidungen im Rahmen des § 60 a Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen.

Derzeit existiert keine Anordnung der obersten Landesbehörde zur Aussetzung der Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG. Die zur Rückführung getroffenen Richtlinien (vergleiche den Erlass des Hessischen Ministeriums des Inneren und für Sport vom 27.07.2005) sind nicht als gleichwertiger Schutz anzusehen.

Selbst wenn man die Sicherheitslage in Kabul, woher die Kläger stammen, trotz des zunehmenden Risikos terroristischer Anschläge, das mittlerweile auch zu einer Reisewarnung des Auswärtigen Amtes geführt hat, gerade noch als ausreichend stabil betrachten würde, ist die schon lange prekäre Versorgungslage ausweislich des Gutachtens von Dr. Mostafa Danesch an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 04.12.2006 inzwischen nur noch als katastrophal und in keiner Weise mehr ausreichend zu bezeichnen.

Auf den jetzt 54-jährigen Kläger zu 1), der nach eigenen Angaben alles Hab und Gut verkaufen musste, um die Schlepper zu bezahlen, - was das Gericht aus Erfahrung für glaubwürdig hält - käme unter diesen Bedingungen die nahezu aussichtslose Aufgabe zu, für sich und seine Familie eine dauerhafte Einnahmequelle zur Sicherung der Unterkunft und des Lebensunterhalts zu finden. Eine qualifiziertere Ausbildung, die ihn von der großen Menge anderer rückkehrender Flüchtlinge abheben würde, hat er nach eigenen Angaben nicht. Auf die prekäre Lage zurückkehrender Familien weist auch das Auswärtige Amt in seinen letzten Lageberichten hin.

Für Frauen, wie also für die Klägerinnen zu 2) und 3), besteht nach den gegebenen politischen und sozialen Verhältnissen (vergleiche Lagebericht des AA. vom 13. 7.2006, Ahrendt-Rojahn/Buchberger u.a.: "Rückkehr nach Afghanistan - unter welchen Umständen können Flüchtlinge zurückkehren?", Kirchner, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan, Länderanalyse, vom 03.02.2006) auch im Raum Kabul - wo die Klägerinnen her stammen - dann, wenn sie auf keinen familiären Rückhalt vor Ort zurückgreifen könnten - wie die Klägerinnen - keine Chance, eine auch nur mitverdienende Lebensgrundlage zu finden, vor allem sie würden also in existenzielle Schwierigkeiten geraten.

Auch die vier Söhne der Kläger, die jetzt erst 14,19,10 und 20 Jahre alt sind (in der aus dem Rubrum ersichtlichen Reihenfolge), könnten weder für sich noch gar zusätzlich für ihre Eltern und Schwestern die Sicherstellung einer noch so bescheidenen Existenz gewährleisten. Da sie seit ihrer Flucht nach Deutschland im Jahre 2002 - damals waren sie 9,14,5 und 15 Jahre alt - in gesicherten Verhältnissen aufgewachsen und in geschützter familiärer und schulischer Umgebung sozialisiert sind und im übrigen noch nie einer existenzsichernden Arbeit nachgehen mussten, hält das Gericht sie für völlig außer Stande, eine ausreichende Lebensgrundlage für sich und dann noch ihre Eltern und Schwestern aufbauen zu können. Der Gutachter Mostafa Danesch geht im übrigen auch gerade für derartige junge Männer davon aus, dass sie unter einem Sicherheitsaspekt sogar als besonders gefährdet anzusehen sind. Dieser Einschätzung folgen in jüngster Zeit verschiedene verwaltungsgerichtliche Entscheidungen (z.B.VG München, Beschluss vom 18.04.2006 - M 23 E 06.60078, in Juris; VG Meiningen, Urt. v.16.11.2006 - 8 K 2639/03 in Juris, aber auch Hess.VGH, Beschluss v. 14.12.2006 - 8 Q 2642/06 jedenfalls im Eilverfahren).

Bei realistischer Beurteilung der Rückkehrlage kann nicht davon ausgegangen werden, dass es der Familie gelingen würde, dauerhaft zu überleben. Sie haben vorgetragen, dass sie in Afghanistan über keine Familienangehörigen mehr verfügen, die sie bei einer Rückkehr dorthin unterstützen könnten. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Kläger zu 4) und zu 8) noch fast Kinder sind, die über keine Sozialisation in Afghanistan verfügen.