OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 16.04.2007 - 4 Bf 241/00.A - asyl.net: M11106
https://www.asyl.net/rsdb/M11106
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Strafurteil, Strafverfahren, Anklage, Staatssicherheitsgericht, Verdacht der Unterstützung, PKK, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Freispruch, Verfolgungssicherheit, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Wehrdienst, Wehrdienstentziehung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

2. Die im Übrigen zugelassene und auch sonst zulässige Berufung hat keinen Erfolg.

a. Dem Kläger ist kein Abschiebungsschutz nach dem jetzt anzuwendenden § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren.

Der Kläger macht zunächst geltend, er habe die Türkei Anfang 1996 verlassen, weil die Staatsanwaltschaft ihn wegen Unterstützung der PKK angeklagt habe und weil er sich dafür vor dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir hätte verantworten müssen. Deshalb sei er wegen unmittelbar drohender Verfolgung aus seinem Heimatdorf und später aus der Türkei geflüchtet. Dieser Vortrag ist in seinem Kern (drohende strafrechtliche Verfolgung im Zeitpunkt der Ausreise) durch die im Asylfolgeantragsverfahren vorgelegte Anklageschrift und die dazu eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 3. April 1998 belegt. Hinsichtlich der insoweit drohenden politischen Verfolgung stand dem Kläger 1995/96 auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Insoweit hätte sich der Kläger an keinem Ort seines Heimatlandes - also auch nicht in der Westtürkei - den türkischen Strafverfolgungsbehörden dauerhaft entziehen können. Das Verwaltungsgericht hat den Kläger deshalb zu Recht als (individuell) vorverfolgt angesehen. Schutz vor Verfolgung kann der Kläger gleichwohl auch unter Anwendung des herabgesetzten Prognosemaßstabs nicht beanspruchen.

Der Kläger macht dazu geltend, in seinem Fall könne bei einer Rückkehr in die Türkei eine Wiederholung der erlittenen politischen Verfolgung nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Denn trotz des zwischenzeitlich erfolgten Freispruchs durch das Staatssicherheitsgericht Diyarbakir gelte er für die türkischen Sicherheitskräfte weiterhin als Sympathisant von "Terroristen" und könnten deshalb asylrelevante Repressalien nicht ausgeschlossen werden. Dieser Einschätzung folgt das Berufungsgericht nicht. Vielmehr ist auf der Grundlage der vorhandenen und in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen festzustellen, dass der Kläger in seinem Heimatstaat vor einer Wiederholung der genannten (oder gleichartigen) Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher ist.

Zwar ist insoweit davon auszugehen, dass der Kläger wegen der von ihm vorgetragenen Aktivitäten für die PKK (insbesondere Versorgung von Angehörigen dieser Organisation mit Dingen des täglichen Lebens) staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt war und dass die Staatsanwaltschaft deswegen gegen ihn im Sommer 1995 Anklage erhoben hat (siehe oben). Nach der vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes, an deren Richtigkeit zu zweifeln kein Anhalt besteht, ist der Kläger jedoch mit Urteil vom 28. November 1996 durch das 4. Staatssicherheitsgericht Diyarbakir vom Vorwurf der Unterstützung und Beherbergung der PKK freigesprochen worden. Dieser Freispruch ist zur Überzeugung des Berufungsgerichts rechtskräftig geworden, und der Kläger ist aus diesem Grunde hinreichend sicher vor gleichartigen Verfolgungsmaßnahmen. Dies ergibt sich aus den vom Verwaltungsgericht eingeholten gutachterlichen Äußerungen und aus weiteren Gutachten sowie einer Auskunft des Auswärtigen Amtes, die das Berufungsgericht 2002 im Verfahren 4 Bf 4/92.A zu einem vergleichbaren Sachverhalt (dort rechtskräftiger Freispruch vom Vorwurf der Unterstützung der TKP/ML ebenfalls aus Mangel an Beweisen) eingeholt hat.

Allerdings hat das Berufungsgericht darüber hinaus in Betracht zu ziehen, dass der Kläger (auch) wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit als vorverfolgt anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des Senats spricht vieles dafür, dass Kurden aus dem Südosten der Türkei (zu der die Provinz die Heimatprovinz des Klägers, noch gehören dürfte) seit Anfang der 90er Jahre im Zusammenhang mit der Bekämpfung der PKK durch türkische Sicherheitskräfte einer - örtlich begrenzten - Gruppenverfolgung ausgesetzt waren (Urt. v. 1.9.1999,5 Bf2/92.A, UA Seite 38 f.). Demzufolge könnte der Kläger, der sein Heimatdorf im Herbst 1995 und kurz darauf die Türkei verließ, wegen kollektiver Verfolgung als kurdischer Volkszugehöriger als vorverfolgt anzusehen sein. Die Frage, ob Kurden im Südosten der Türkei damals tatsächlich einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung ausgesetzt waren, hat der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung indes stets offen gelassen. Sie kann auch im vorliegenden Falle ebenso offen bleiben wie die Frage, ob der im Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei 19jährige Kläger im Hinblick auf volkszugehörigkeitsbedingte Repressalien im Westen der Türkei eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden hätte (und er jedenfalls aus diesem Grunde nicht als vorverfolgt angesehen werden kann). Denn der Kläger hätte auch als (kollektiv) Vorverfolgter keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, weil er gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nach dem für Vorverfolgte maßgebenden Prognosemaßstab hinreichend sicher vor einer gleichartigen Verfolgung ist:

Denn Kurden sind nach der ständigen Rechsprechung des Senats gegenwärtig im Westen der Türkei, insbesondere in den dortigen Großstädten, hinreichend sicher vor kollektiver Verfolgung (Urt. v. 13.7.2006, 4 Bf 318/99.A, UA Seite 14; Urt. v. 25.9.2006, 4 Bf 85/97.A, UA Seite 21). Ihnen droht dort gegenwärtig - ohne dass es hierauf allerdings asylrechtlich entscheidend ankommt, vgl. Urt. v. 13.7.2006, 4 Bf 318/99.A, UA Seite 15 f. - auch kein Leben unterhalb des Existenzminimums (Urt. v. 3.5.2006, 4 Bf 3/92.A, UA Seite 20).

Dem Kläger drohen auch nicht nach dem für Vorverfolgte maßgeblichen Prognosemaßstab im Hinblick auf seine individuelle Vorverfolgung (dazu oben) noch wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit asylrelevante Übergriffe während seiner Einreise in sein Heimatland (Urt. des Berufungsgerichts v. 3.5.2006, 4 Bf 3/92.A, UA Seiter 26 und Urt. v. 13.7.2006, 4 Bf 318/99.A, UA Seite. 20).

Als kurdischer Volkszugehöriger ist der Kläger schließlich hinreichend sicher vor asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen während des von ihm in der Türkei wahrscheinlich noch abzuleistenden Militärdienstes oder weil er sich während seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet dem türkischen Wehrdienst entzogen hat. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (zuletzt Urt. v. 3.5.2006, 4 Bf 3/92.A, UA Seite 26). Die seither bekannt gewordenen Erkenntnisquellen rechtfertigen keine davon abweichende Beurteilung.