VG Ansbach

Merkliste
Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 24.01.2007 - AN 9 K 06.31086 - asyl.net: M11137
https://www.asyl.net/rsdb/M11137
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Christen, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Religion, Alter, Frauen, alleinstehende Frauen, Situation bei Rückkehr, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Die zulässige Klage gerichtet darauf, unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Februar 2004, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen der §§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen, ist bezüglich des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründet.

Es spricht bereits viel für die Annahme, dass die in der Nähe von Mossul geborene Klägerin, die 25 Jahre vor ihrer Ausreise in Bagdad gelebt hat, wegen ihrer Glaubenbetätigung im Falle einer Rückkehr allgemein verfolgt werden würde.

Religiös motivierte Verfolgung ist auch Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 b der Richtlinie 2004/83/EG des Rats vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie). Nach Art. 10 Abs. 1 b dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, dass der Begriff der Religion unter anderem die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten und öffentlichen Bereich umfasst. Mit diesem Inhalt wird auch der Schutz vor Verfolgung auf solche Maßnahmen ausgedehnt, die an die öffentliche Glaubenbetätigung anknüpfen.

Dieses weitere Verständnis eines asylerheblichen Schutzes der Religionsfreiheit dürfte auch für das vorliegende Verfahren maßgeblich sein, da die Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie zum 10. Oktober 2006 abgelaufen ist.

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung hat dies zur Folge, dass der Schutz vor Verfolgung bei der Religionsausübung nicht lediglich im "privaten" Bereich, sondern auch im Bereich der öffentlichen Religionsausübung umfasst ist. Allerdings ist nicht jede Diskriminierung in dem so verstandenen religiösen Schutzbereich zugleich auch Verfolgung wegen der Religion. Sie muss vielmehr das Maß überschreiten, das lediglich zu einer durch die Diskriminierung eintretenden Bevorzugung anderer führt, sich mithin also als ernsthafter Eingriff in die Religionsfreiheit darstellt (Marx AsylVfG, 6. Auflage, § 1 RdNr. 212, m.w.N.). Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die auf die - häuslich-private, aber auch öffentliche - Religionsausübung. gerichtete Maßnahme zugleich auch mit Gefahr für Leib und Leben verbunden ist oder zu einer dementsprechenden "Ausgrenzung" führt (vgl. Marx a.a.O. RdNr. 208 f. m.w.N.).

Es spricht viel für die Annahme, dass von dieser Eingriffsschwere im Fall der Klägerin, die aus Bagdad kommt, auszugehen ist. Nach den dem Gericht zugänglichen, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen, richten sich die Angriffe von Dritten ersichtlich auch gegen die Christen in ihrer Eigenschaft als tätige Gläubige.

Ob vor diesem Hintergrund davon ausgegangen werden kann, dass im Raum Bagdad bzw. Mossul Christen generell mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben, kann im vorliegenden Fall letztlich dahinstehen. Denn im Fall der Klägerin kommt individuell hinzu, dass christliche Frauen landesweit zunehmend unter den Druck extremistischer Gruppen geraten, sich traditionell islamischen Vorstellungen entsprechenden Bekleidungsvorschriften anzupassen, sich zu verschleiern und dies in Städten, in der ausländische Gruppierungen wie Ansar Al-Sunna und islamistische Milizen die faktische Kontrolle über ganze Straßenzüge und Stadtteile übernommen haben, verstärkt zu berücksichtigen ist des Weiteren, dass die Klägerin vor über sechs Jahren den Irak verlassen hat und sich bei einer gedachten Rückkehr nicht auf die Unterstützung einer im Irak noch vorhandenen Familie stützen kann. In der Gesamtschau dieser Umstände spricht alles dafür, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in ihren Heimatort Bagdad mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit religiös bedingten Verfolgungen rechnen müsste. Hinzu kommt bei der Klägerin, dass diese wegen ihres Alters und ihres Geschlechtes kaum Möglichkeiten hat, in der irakischen Gesellschaft eigenständig sich Existenzmöglichkeiten zu schaffen. Wie sich aus den glaubwürdigen und nachvollziehbaren Angaben der Klägerin ergibt, besteht die Möglichkeit des Schutzes und der Existenzsicherung durch eine Familie für die Klägerin im Irak nicht.