VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 18.07.2007 - 5 K 99/07 - asyl.net: M11151
https://www.asyl.net/rsdb/M11151
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung eines Tamilen; Verschlechterung der Menschenrechtslage in Sri Lanka

 

Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, politische Entwicklung, Sicherheitslage, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, LTTE, Colombo
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung eines Tamilen; Verschlechterung der Menschenrechtslage in Sri Lanka

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung des Klägers ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der Fassung des am 01.01.2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes.

II. Die Widerrufsvoraussetzungen nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind jedenfalls in materieller Hinsicht nicht erfüllt.

Die Widerrufsvoraussetzungen liegen jedenfalls im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor.

III. Auf der Grundlage dieser tatsächlichen Erkenntnisse, die mit Stellungnahmen und Gutachten anderer Autoren im Wesentlichen in Einklang stehen (vgl. hierzu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Erkenntnisse des Bundesamtes zu Sri Lanka, vom 04.05.2007; ai vom 18.04.2007 an VG Hannover), kann derzeit nicht festgestellt werden, dass sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung des Klägers maßgeblichen Verhältnisse nachträglich und nicht nur vorübergehend derart verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Klägers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahme auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Den Erkenntnisquellen ist - zusammengefasst - im Wesentlichen übereinstimmend zu entnehmen, dass Sri Lanka sich seit Ende Juli 2006 faktisch im Bürgerkriegszustand befinde, wobei im Osten und Norden des Landes andauernde Kämpfe zwischen den Streitkräften und der LTTE stattfänden und im Süden einschließlich der Hauptstadt Colombo eine ganze Reihe von Anschlägen und Attentaten vor allem gegen Sicherheitskräfte, Repräsentanten des Staates und LTTE-kritische tamilische Politiker verübt würden. Mit dem faktischen Wiederausbruch des Bürgerkrieges habe sich die Lage gerade auch für die im Regierungsgebiet lebenden Tamilen erheblich verschlechtert. Die Sicherheitskräfte seien nach den Verschärfungen des Notstandsrechts Ende 2006 mit weitestgehenden Kontroll- und Eingriffsbefugnissen ausgestattet und einer richterlichen Kontrolle weitgehend entzogen. Im Regierungsgebiet richteten sich ständige Razzien, PKW-Kontrollen, Hausdurchsuchungen sowie Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente vor allem gegen Tamilen, wobei es bei Festnahmen zu längerer Inhaftierung ohne weitere Verfahrensschritte sowie zu Misshandlungen und Folter kommen könne.

Damit besteht mit Blick auf die Verfolgungsakteure, die Verfolgungshandlungen und die betroffenen Verfolgungssubjekte eine Verfolgungslage, die bereits im Zeitpunkt der Anerkennung des Klägers gegeben war, wobei allerdings angesichts der nunmehr geltenden Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 Buchstabe c AufenthG der Kreis der asylrelevanten Verfolgungsorgane um nichtstaatliche Akteure wie die LTTE erweitert wurde.

Ausgehend hiervon ist eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen.

Aufgrund der im Norden und Osten des Landes anhaltenden Kämpfe kommt, wovon ersichtlich auch die Beklagte ausgeht, eine Rückkehr des Klägers allenfalls in die von direkten Kampfhandlungen noch weitgehend verschonten Gebiete im Westen und Süden Sri Lankas, insbesondere den Großraum Colombo in Betracht. Aber auch dort sind tamilische Volkszugehörige, die wie der Kläger aus dem Norden und Osten stammen, der Gefahr ausgesetzt, als potentielle Unterstützer der LTTE angesehen zu werden, und deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit von Festnahmen, Haft, Entführungen oder sogar Tötungen bedroht (vgl. bereits UNHCR vom Januar 2007, wie vor).

Nach aktueller Einschätzung des Auswärtigen Amtes sind, wie bereits dargelegt, im Regierungsgebiet lebende Tamilen in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten und Rückkehrer aus dem Ausland, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Colombo oder dem Süden niederlassen wollen, einem Anfangsverdacht, der LTTE nahe zu stehen, ausgesetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 26.06.2007, wie vor).

Zwar kann dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes nicht entnommen werden, dass ein solcher General- oder Anfangsverdacht schon per se zu einer asylrelevanten Verfolgung führt.

Allerdings kommt es fallbezogen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Widerrufs nicht auf den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit sondern darauf an, ob eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist. Nach Maßgabe des damit anzuwendenden sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs kann aber nicht mit hinreichender Gewissheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei Rückkehr nach Sri Lanka politischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist. Denn gerade im Hinblick darauf, dass es vor allem bei Tamilen schon bei geringsten Verdachtsmomenten zu Verhaftungen mit längerer Inhaftierung und dabei auch zu Misshandlungen und sogar Folter kommen kann, erscheint vorliegend keineswegs ausgeschlossen sondern ohne weiteres möglich, dass der Kläger etwa im Rahmen der zahlreichen Razzien, PKW-Kontrollen oder Hausdurchsuchungen trotz fehlender Anhaltspunkte für die Unterstützung terroristischer Aktivitäten allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet, längerfristig inhaftiert und dabei in erheblichem Maße misshandelt oder gar gefoltert, mithin asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 08.11.1990 -2 BvR 933/90-, InfAuslR 1991, 25, 27; vom 10.07.1989 -2 BvR 502/86 u.a.-, InfAuslR 1990, 21 ff; Gemeinschaftskommentar AsylVfG, Stand: Februar 2007, vor II - 3, Rdnr. 37 ff.) ausgesetzt würde.

Darüber hinaus kommt im vorliegenden Fall noch hinzu, dass die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter und Flüchtling nicht aufgrund seiner Ethnie sondern deshalb erfolgt ist, weil er wegen eines individualisierten LTTE-Verdachts der Gruppe der auffälligen und daher gefährdeten Tamilen zugerechnet wurde und er aus diesem Grund bei einer Rückkehr in sein Heimatland nicht sicher war. Unter diesem Aspekt ist eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der maßgeblichen Verhältnisse, aufgrund der eine Wiederholung der fluchtursächlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgeschlossen erscheint, auch nicht ansatzweise von der Beklagten dargelegt oder sonst erkennbar. Vielmehr müssen nach den vorliegenden Erkenntnissen gerade Sri Lanker, die in der Vergangenheit seitens der Sicherheitskräfte verfolgt wurden, seit Ende Dezember 2006 mit erneuter Verfolgung und Beeinträchtigung ihrer Sicherheit rechnen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 26.06.2007, wie vor; Ad-hoc-Information vom 31.01.2007, wie vor).