VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 30.07.2007 - 1 A 388/06 - asyl.net: M11152
https://www.asyl.net/rsdb/M11152
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich des Kosovos wegen posttraumatischer Belastungsstörung

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Serbien, Kosovo, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, fachärztliche Stellungnahme, Retraumatisierung, medizinische Versorgung, Situation bei Rückkehr, Finanzierbarkeit
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich des Kosovos wegen posttraumatischer Belastungsstörung

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 4 S. 1 VwGO).

Der Kläger leidet nach den in sich stimmigen, nachvollziehbaren und überzeugenden fachärztlichen Stellungnahmen der ihn behandelnden vom 20. Juli, 19. September und 15. November 2005, 17. Juli 2006 sowie 18. Januar und 21. März 2007 an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung nach Traumatisierung. Zudem würde nach der Stellungnahme vom 18. Januar 2007 eine erzwungene Rückkehr in sein Heimatland für den Kläger eine extreme Belastung darstellen, die zu eine Destabilisierung der psychischen Verfassung und der damit vorliegenden Dekompensation führen. Diese Dekompensation und Suizidgefahr könnten aus psychotraumatologischer Sicht nicht durch eine Behandlung in der Umgebung, in der multiple traumatische Erfahrungen stattgefunden haben, abgewendet werden. Von daher sei mit Retraumatisierungen und einer daraus folgenden erhöhten Suizidalität bei dem Kläger zu rechnen, so dass von einer ernsthaften Gefährdung der psychischen und physischen Unversehrtheit des Klägers auszugehen sei. Auch der gegen ärztliche Stellungnahmen bei einer PTBS immer wieder vorgetragene Einwand, gegen eine PTBS spreche bereits, dass die betreffenden Probleme erst Jahre nach den angeblich Trauma auslösenden Erlebnissen vorgebracht werden, überzeugt nicht. Der pauschale Einwand, die Symptome einer PTBS würden in der Regel innerhalb einer Frist von 6 Monaten nach den traumatisierenden Erlebnissen auftreten, trifft bereits in dieser Allgemeinheit nicht zu. Vielmehr ist es wegen unterschiedlichster Umstände sehr wohl möglich, dass die entsprechenden Symptome erst wesentlich später detailliert auftreten und entsprechend diagnostiziert werden. Dies kann von vielen Faktoren abhängen, die bei der psychotherapeutischen Diagnose und einer eventuell nachfolgenden Therapie abgeklärt und beachtet werden müssen. Insbesondere ist eine Aufklärung dahingehend notwendig, auf welchen Ursachen die erst später aufgetretenen Symptome einer PTBS beruhen und welche Konsequenzen daraus für die zu treffenden Diagnose und Therapie folgen.

Nach den vorliegenden fachärztlichen Beurteilungen steht für das Gericht fest, dass der Kläger ohne die notwendige Therapie und psychiatrische Behandlung in eine lebensbedrohliche Gesundheitskrise geraten würde. Dies gilt erst recht bei einer Rückkehr in sein Heimatland. Wenn sich der Kläger schon in Deutschland von den traumatischen Erlebnissen nicht lösen kann, bereits bei dem Gedanken an eine Rückkehr in Panik und Suizidalität gerät und bei diesen Anlässen die traumatisierenden Erlebnisse sich immer wieder überrollen, ist diese Gefahr aufgrund der besonderen psychischen Situation des Klägers um ein Vielfaches stärker vorhanden, wenn er zurück in sein Heimatland gehen müsste. Allein das Bewusstsein, wieder in dem Land zu sein, in dem die traumatisierenden Übergriffe und Erlebnisse stattgefunden haben, würden den Kläger extrem belasten. Das Gericht geht nach alledem davon aus, dass es bei einer Rückkehr eine große Anzahl traumaspezifischer Trigger geben würde und sich diese Trigger bei der Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der Schwere der Erkrankung des Klägers gegenüber ihrem Vorhandensein im Bundesgebiet noch steigern würden. Zur Überzeugung des Gerichts wäre dies unabweisbar. Daraus leitet sich wieder die hohe Gefahr einer schwerwiegenden Retraumatisierung mit einer erheblichen Verschlimmerung der posttraumatischen Symptome gegenüber dem jetzigen Gesundheitszustand des Klägers ab. Deshalb steht auch zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland in kurzer Zeit völlig aufgeben und ihm eine konkrete erhebliche und extreme Gefahrenlage für Leib und Leben drohen würde.

Daneben ist das Gericht - selbständig tragend - davon überzeugt, dass sich die Krankheit des Klägers in Serbien/Kosovo auch allein deshalb in erheblicher Weise verschlimmern würde, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend und für ihn nicht erreichbar sind. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind posttraumatische Belastungsstörungen in Serbien einschließlich des Kosovo nicht adäquat behandelbar. Insbesondere würde der Kläger, der nach den vorgelegten und bereits wiedergegebenen fachärztlichen Stellungnahmen auf eine regelmäßige psychotherapeutische Behandlung zwingend angewiesen ist, diese Behandlung in seinem Heimatland nicht erhalten können. Nach den aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes für Serbien und den Kosovo werden posttraumatische Belastungsstörungen in der Regel vorrangig medikamentös behandelt. Psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten stehen nur in äußerst begrenztem Umfang zur Verfügung und existieren bei der ambulanten psychiatrischen Behandlung im öffentlichen Gesundheitswesen erhebliche Engpässe. Auch die Anzahl der privat praktizierenden Fachärzte für Psychotherapie ist sehr begrenzt und müssten die entsprechenden Kosten überdies von den Patienten selbst getragen werden (vgl. Lageberichte für Serbien vom 23. April 2007 und für den Kosovo vom 15. Februar 2007). Zudem könnte der Kläger, der aus dem Kosovo stammt, in Serbien eine Registrierung und damit auch eine medizinische Versorgung im dortigen öffentlichen Gesundheitswesen nicht erlangen. Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger in seinem Heimatland im öffentlichen Gesundheitswesen eine adäquate Behandlung nicht finden könnte. Auf die Inanspruchnahme privatärztlicher Behandlung könnte der Kläger schon deshalb nicht verwiesen werden, weil er über die erforderlichen Finanzmittel nicht verfügt.