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VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 04.07.2007 - AN 3 K 05.31094 - asyl.net: M11156
https://www.asyl.net/rsdb/M11156
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Gruppenverfolgung, Sunniten, Schiiten, Situation bei Rückkehr, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgungsdichte, Bagdad, Nordirak, interne Fluchtalternative, Sicherheitslage, Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes (früher: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, jetzt: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

4. Rechtsgrundlage für den Widerruf der Asylanerkennung oder der Flüchtlingseigenschaft stellt § 73 AsylVfG dar.

6. Das Bundesamt hat im angefochtenen Bescheid die Feststellungen zu Abschiebungsverboten zu Unrecht widerrufen, da der Kläger nach Überzeugung des Gerichts jetzt und in absehbarer Zukunft einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG bezüglich des Iraks besitzt, wobei die erweiterten Voraussetzungen dieser Vorschrift hier zu Grunde zu legen sind.

Allerdings geht das Gericht auf Grund der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen sowie der allgemein zugänglichen Berichterstattung in den Medien davon aus, dass für Rückkehrer aus Deutschland in den Irak, gleich welcher Konfession sie angehören, die Gefahr einer politischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, wobei lediglich Personen, die aus der früheren kurdischen Autonomie-Region im Nordirak stammen, dort familiäre Beziehungen unterhalten und bei denen keine sonstigen Gründe einem Aufenthalt in dieser Region entgegenstehen, auf eine dort existierende inländische Fluchtalternative verwiesen werden können, falls sichergestellt ist, dass ihre Rückkehr in dieses Gebiet so möglich ist, dass sie keine anderen irakischen Landesteile dabei durchqueren müssen.

9. Allerdings droht zurückkehrenden Irakern unabhängig von der früher erlittenen Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, die anknüpft an die Religionszugehörigkeit und gegen die Schutz zu gewähren der irakische Staat zum Teil nicht willens, jedenfalls aber nicht in der Lage ist.

Ungeachtet der religiösen Minderheiten drohenden erhöhten Verfolgungsgefahr auf Grund des wachsenden Islamismus droht eine solche Verfolgung auch Sunniten und Schiiten, wechselseitig verübt von jeweils militanten Vertretern der "gegnerischen" Religion, wobei nach den Angaben des Auswärtigen Amtes auch im jüngsten Lagebericht sogar direkte staatliche Verfolgung durch im Auftrag des Innenministeriums tätige Todesschwadronen schiitischer Glaubenszugehörigkeit stattfindet, die gezielt Sunniten ausfindig machen, in ihre Gewalt bringen und im Regelfall nach grausamen Misshandlungen töten. Daneben finden zahlreiche geplante und zielgerichtete Überfälle und Morde an Mitgliedern der jeweils anderen Glaubensrichtung statt, so werden nach dem Lagebericht Stand Januar 2007 allein in Bagdad täglich dutzende Tote interkonfessioneller Auseinandersetzungen gefunden.

Bei den vorstehend geschilderten Morden, Verstümmelungen und Entführungen handelt es sich dabei nach den Angaben insbesondere im jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes um gezielte Verfolgungsmaßnahmen, die ausschließlich an die Religionszugehörigkeit des Betroffenen anknüpfen. Motiviert werden diese Morde und Massaker einerseits durch den sich immer weiter zuspitzenden Kampf um Macht und Einfluss im Irak zwischen den Religionsgemeinschaften der Schiiten und der Sunniten einerseits und weiter vom zunehmenden Hass zwischen diesen Religionsgruppen, der sich wiederum aus den Morden und Anschlägen heraus immer weiter verstärkt.

Bei der von der Kammer zu treffenden Prognoseentscheidung ist dabei insbesondere von Bedeutung, dass sich einerseits die Zahl der Anschläge im Irak rapide erhöht, so allein im Jahr 2006 von anfänglich ca. 90 zunächst bis Mitte 2006 auf 100 pro Tag, davon etwa ein Drittel regelmäßig im Großraum Bagdad (Lagebericht vom 29.6.2006), während sich seither die Zahl der Anschläge zunächst auf 120 bis 150 pro Tag erhöhte und gegen Ende 2006 dann auf bis zu 200 pro Tag verdoppelte.

10. Ungeachtet der Tatsache, dass die genannte hohe Zahl von religionsbedingten Verfolgungsmaßnahmen bereits für die im Irak lebenden Sunniten und Schiiten ein hohes Gefährdungspotential besitzt, besteht diese Gefährdung in erheblich gesteigertem Maße für aus dem Ausland zurückkehrende Iraker, wie etwa aus Deutschland abgeschobene oder freiwillig zurückkehrende Asylbewerber. Zum einen findet ein erheblicher Teil der Anschläge auf den Überlandstraßen, sowie in der Umgebung gerade der internationalen Flughäfen im Irak statt, welche aber von den Heimkehrern bei ihrer Rückkehr benutzt werden müssten. Darüber hinaus müssten sich Rückkehrer aus Deutschland bei einer Rückkehr in den Irak tatsächlich zunächst gerade im Bereich von Flughäfen und auf Überlandstraßen bewegen, um in ihren Heimatort zu gelangen, wodurch sie in besonderem Maße Übergriffen und konfessionsbedingter Verfolgung ausgesetzt wären. Darüber hinaus fehlt es Rückkehrern in den Irak an der Vertrautheit mit der alltäglichen Gefährdung im Irak, so dass sie der Gefahr solcher Überfälle in noch größerem Maße ausgesetzt sind als es die im Irak verbliebene Bevölkerung ist. Die besondere Gefährdung für Rückkehrer wird weiter gesteigert durch ein „westliches" Aussehen sowie durch "westliche Kleidung", was eben auch noch zur besonderen Gefahr krimineller Übergriffe führt.

11. Dabei ist hinsichtlich der Zahl der Anschläge auf die Gruppe schiitischer und sunnitischer Rückkehrer aus Deutschland vor allem zu beachten, dass es Feststellungen bezüglich aus Deutschland abgeschobener oder zurückkehrender Asylbewerber derzeit praktisch nicht gibt, weil solche Rückführungen tatsächlich nicht oder nur in äußerst geringem Umfang stattgefunden haben und Berichte über die Erlebnisse und Erfahrungen der - wenigen - Rückkehrer derzeit nicht vorliegen.

Die vom Bundesverwaltungsgericht (z.B. im Beschluss vom 28.6.2006) geforderte Feststellung der Zahl der Übergriffe auf eine Gruppe und die Ermittlung der Größe der Gruppe, so dass eine Prognose über die Häufigkeit des Eintritts einer Verfolgungsmaßnahme für ein einzelnes Gruppenmitglied möglich wird, ist somit hier nicht möglich. Allerdings verweisen die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen, insbesondere auch die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, immer wieder darauf, dass sich die Lage fortwährend verschlechtert, wobei die Verschlechterung seit dem Jahr 2003 kontinuierlich angehalten hat und somit nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Situation im Irak sich auch nur stabilisiert, geschweige denn verbessert.

Nach Auffassung der Kammer kann es somit einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage eines irakischen Asylbewerbers aus Deutschland nach Abwägung aller bekannten Umstände nicht zugemutet werden, in den Irak zurückzukehren.

12. Eine derartige Verfolgung droht Rückkehrern nicht nur in Bagdad, sondern praktisch in allen Landesteilen des Irak mit Ausnahme des im Nordirak gelegenen, von den Kurden verwalteten früheren Autonomiegebietes, das die Provinzen Erbil, Dohuk und Sulaimaniya umfasst. Dort ist die Sicherheitslage sowohl nach den Angaben in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes als auch in den sonstigen Erkenntnisquellen, etwa dem Bericht des UNHCR vom 9. Januar 2007, besser als im übrigen Land, wenn auch der UNHCR erhebliche Gefahren für die zukünftige Situation im gesamten Nordirak ausführlich und vielgestaltig darlegt.

Allerdings ist die Kammer der Überzeugung, dass für den Kläger keine solche innerstaatliche Fluchtalternative besteht. Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative für zurückkehrende Iraker setzt nach Auffassung der Kammer voraus, dass diese dort über Unterstützung durch Familie oder im Rahmen des Stammes verfügen, welche ihnen ein Existenzminimum sichert, dass ihnen die Rückkehr in den Nordirak nicht aus anderen Gründen unmöglich ist und dass der Nordirak durch sie erreicht werden kann, ohne dass sonstige Landesteile des Irak durchquert werden müssen.