VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 25.07.2007 - 3 E 1771/06.A - asyl.net: M11157
https://www.asyl.net/rsdb/M11157
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Kabul, Versorgungslage, Wohnraum, medizinische Versorgung, Situation bei Rückkehr, RANA-Programm, IOM, in Deutschland geborene Kinder, Aufenthaltsdauer, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen u.a. des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in Bezug auf Afghanistan (wieder) vor. Die in den Bescheiden vom 04. und 05.09.2001 getroffene Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG durfte deshalb nicht widerrufen werden.

Diese Voraussetzungen sind zwar in Bezug auf die Sicherheitslage in Afghanistan nicht erfüllt. Die Taliban haben zwar mittlerweile ganze Regionen in den Südprovinzen Kandahar, Helmand und Zabul zurückerobert. Auch in Nordafghanistan ist es in den vergangenen Monaten gelegentlich zu terroristischen Anschlägen gekommen. Insgesamt geht es aber im Westen und Norden Afghanistans vergleichsweise friedlich zu. Dort gelten zunehmend kriminelle bewaffnete Banden als das Hauptproblem (HNA vom 09.03.2007). Im Raum Kabul ist die Sicherheitslage zwar fragil, aber aufgrund der Isaf-Präsenz im regionalen Vergleich zufriedenstellend und wird vom UNHCR seit Mitte 2002 für freiwillige Rückkehrer als "ausreichend sicher" bezeichnet (AA, Lagebericht vom 17.03.2007). Für das Frühjahr 2007 haben die Taliban zwar eine Offensive angekündigt, für die nach Aussagen ihres Militärchefs Mullah Dadullah im Grenzgebiet zu Pakistan 6000 Kämpfer bereit stehen sollen, darunter 2.000 Selbstmordattentäter. Dieser Frühjahrsoffensive will die von der NATO geführte Afghanistan-Schutztruppe und die afghanische Armee seit Anfang März 2007 mit der Operation "Achilles" zuvorkommen, an der insgesamt 5.500 Soldaten beteiligt sind. Ziel dieses Einsatzes ist die weiträumige Sicherung des Kajaki-Staudammes im Nordosten der Provinz Helmand, der ganz Süd-Afghanistan mit Elektrizität versorgt und als Speicher für die Bewässerung von Feldern in der Umgebung dient. Eine ernsthaft individuelle Gefahr für Leib und Leben jedes unbeteiligten Dritten besteht aber auch hier nicht. Auch in den übrigen Regionen des Landes kann selbst bei Zunahme der Entführungen, bewaffneten Auseinandersetzungen und Selbstmordanschlägen der Taliban nicht davon ausgegangen werden, dass unbeteiligte Dritte jederzeit in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Konflikt zu den Opfern zählen könnten. Eine extreme Gefahrenlage, wie sie nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Überwindung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderlich wäre, ist insoweit derzeit nicht gegeben.

Die genannten Voraussetzungen liegen jedoch jedenfalls hier vor, soweit es die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, Wohnraum und die Krankenversorgung anbetrifft.

Nach den in das Verfahren eingeführten Lageberichten des Auswärtigen herrscht gerade in den ländlichen Gebieten Afghanistans starke Mangelernährung. Die medizinische Versorgung sei aufgrund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte und mangels ausgebildeten Hilfspersonals völlig unzureichend.

Auch nach dem Bericht "Rückkehr nach Afghanistan" der Stiftung Pro Asyl vom Juni 2005 ist die Wohnungssituation äußerst angespannt; allenfalls für Einzelpersonen lasse sich mit Hilfe des Familienverbandes eine Bleibe finden. Ohne diese Hilfe lasse sich das Wohnungsproblem nicht bewältigen.

Die jüngsten und ausführlichsten Berichte über die Lage in Afghanistan stammen von Dr. Mostafa Danesch, der das Land zuletzt in der Zeit vom 10. bis 26.12.2005 besucht hat. Er kommt in seinem Gutachten an das VG Wiesbaden vom 23.01.2006 zu dem Ergebnis, dass sich die Lebensverhältnisse in Kabul - dem einzigen Ort, der für eine Abschiebung in Frage komme - in katastrophalem Maße verschlechtert hätten.

Der vom OVG Berlin-Brandenburg am 27.03.2006 in den dort anhängigen Verfahren 12 B 9. und 11.05 als sachverständiger Zeuge vernommene Bedienstete des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge David hat demgegenüber zwar ausgesagt, dass auch aus Deutschland abgeschobenen Asylbewerbern im Rahmen des von der International Organisation for Migration (IOM) durchgeführten RANA-Programms der Europäischen Union für Afghanistan Hilfen zur Verfügung stünden. Das RANA-Programm ist jedoch nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an die Kammer vom 31.01.2007 in dem Verfahren 3 E 1883/05.A Ende April 2007 endgültig ausgelaufen, so dass es hierauf nicht mehr ankommt.

Die Kläger zu 1. und 2. leben bereits seit fast zehn Jahren in Deutschland. Sie sind aufgrund ihrer langen Abwesenheit nicht mehr mit den sich ständig wandelnden Verhältnissen in ihrem Heimatland vertraut. Das gilt auch für die bei der Einreise erst knapp zwei Jahre alte Klägerin zu 3. und erst recht für die Kläger zu 4. bis 6., die hier geboren wurden. Die Kläger können in Afghanistan auch nicht auf vorhandenes Vermögen zurückgreifen. Die Kläger können bei einer Rückkehr auch nicht auf die Hilfe Dritter oder auf die Unterstützung durch Angehörige zählen.

Eine die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gebietende verfassungswidrige Schutzlücke ist auch nicht im Hinblick auf den Erlass des Hessischen Ministeriums des Inneren und für Sport vom 17.05.2005 zu verneinen. Nach diesem Erlass sind "mit Vorrang ab sofort" neben Straftätern und Sicherheitsgefährdern volljährige allein stehende männliche afghanische Staatsangehörige, die sich noch nicht seit dem 19.11.1998 im Bundesgebiet aufhalten, und anschließend auch allein stehende weibliche Erwachsene und Ehepaare ohne Kinder zurückzuführen. Eltern mit minderjährigen Kindern sind dort nicht erwähnt, woraus die Rechtsprechung in der Vergangenheit die Unwahrscheinlichkeit einer alsbaldigen Abschiebung gefolgert hat (vgl. Hess. VGH, Beschlüsse vom 12.09.2005 - 8 UZ -1427/04.A -, vom 01.11.2005 - 8 UZ 854/05.A - und vom 12.10.2006 - 8 UZ 259/06.A). Diese Annahme ist heute nicht mehr gerechtfertigt. Der Oberbürgermeister der Stadt Kassel als eine der beiden im Regierungsbezirk Kassel für die Abschiebung von Asylbewerbern zuständigen Behörden hat in dem bei der Kammer anhängig gewesenen Eilverfahren 3 G 1287/06.A einer Familie mit minderjährigen Kindern durch Schriftsatz vom 29.08.2006 erklärt, ihre Duldungen würden im Einklang mit dem genannten Erlass nicht mehr verlängert, weil keine ausreisepflichtigen afghanischen Staatsangehörigen aus anderen Personengruppen mehr zur Aufenthaltsbeendigung anstünden. In dem Eilverfahren 3 G 1456/06.A hat er mit Schriftsatz vom 25.09.2006 ebenfalls erklärt, nach geltender Erlasslage müssten nun auch afghanische Familien zurückkehren. Auch hier war eine Familie mit minderjährigen Kindern betroffen. Entgegen der anderslautenden telefonischen Mitteilung der beiden genannten Behörden an den erkennenden Einzelrichter und Vorsitzenden der 3. Kammer vom 12.03.2007 schützt der genannte Erlass demnach in der Praxis Familien mit minderjährigen Kindern nicht mehr vor einer Abschiebung. Von einer Rückführung ausgenommen sind nachdem Erlass zwar Personen, die sich seit dem 19.11.1998 im Bundesgebiet aufhalten und ihren Lebensunterhalt durch eigene legale Erwerbstätigkeit sichern.