VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 12.06.2007 - 16 K 3205/06.A - asyl.net: M11200
https://www.asyl.net/rsdb/M11200
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Christen, Konversion, Apostasie, religiös motivierte Verfolgung, Religion, Religionsfreiheit, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Strafrecht, Todesstrafe, Scharia, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Sicherheitslage, Islamisten, Schutzfähigkeit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für irakischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum

 

Der Bescheid des Bundesamtes vom 24. April 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Die Widerrufsentscheidung kann nicht auf § 73 Abs. 1 AsylVfG gestützt werden.

Dem Kläger droht jedoch wegen seiner Konversion zum Christentum bei einer Rückkehr in den Irak mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit erneute Verfolgung.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und des Bundesverfassungsgerichtes kann sich eine die Flüchtlingsanerkennung rechtfertigende Verfolgung auch aus einem Eingriff in die Religionsfreiheit ergeben, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzt. Dies ist allerdings nicht schon dann der Fall, wenn die Religionsfreiheit, gemessen an der umfassenden Gewährleistung, wie sie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält, Eingriffen und Beeinträchtigungen ausgesetzt ist. Diese müssen vielmehr ein solches Gewicht erhalten, dass sie in den elementaren Bereich eingreifen, den der Einzelne unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde wie nach internationalem Standard als so genanntem religiösen Existenzminimum benötigt. Dieser auch als "forum internum" bezeichnete unverzichtbare und unentziehbare Kern der Privatsphäre des glaubenden Menschen umfasst die religiöse Überzeugung als solche und die Religionsausübung abseits der Öffentlichkeit und in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf. Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit gehören nicht zum Existenzminimum (vgl. zum Ganzen, BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478/89 u.a. -, BVerfGE 76, 143 (158 f.); BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 - 1 C 90.03 -, InfAuslR 2004, 319 (320 ff.); beide m.w.Nachw.).

Über dieses Verständnis der religiösen Verfolgung geht die Definition des Verfolgungsgrundes "Religion" in Art. 10 Abs. 1 b) QR - in Teilbereichen - hinaus. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.

Da die Religionsfreiheit hiernach die Teilnahme an religiösen Riten nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich erfasst, lässt sich die Beschränkung des Religionsbegriffs auf das so genannte religiöse Existenzminimum nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten (so auch VG Düsseldorf, Urteil vom 8. Februar 2007 - 9 K 2279/06.A -, Urteil vom 16. Oktober 2006 - 5 K 4336/06.A -; VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Oktober 2006 - A 6 K 10335/04 -; sowie die Hinweise des Bundesinnenministeriums vom 13. Oktober 2006 zur Qualifikationsrichtlinie, S. 9).

Religiöse Riten sind die in einer Religionsgemeinschaft üblichen oder geregelten Praktiken oder Rituale, die der religiösen Lebensführung dienen, insbesondere Gottesdienste, kultische Handlungen und religiöse Feste. Nach seinem ausdrücklichen Wortlaut schützt Art. 10 Abs. 1 b) QR nicht nur vor der Verfolgung bei Teilnahme an privaten (Haus-)Gottesdiensten, sondern auch bei Teilnahme an Gottesdiensten, die in öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten (Kirchen) abgehalten werden.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ergibt die dem erkennenden Gericht zum Irak vorliegende Erkenntnislage hinsichtlich der Verfolgungsgefährdung bei Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben folgendes Bild:

Ob die Konversion eines Muslims zum Christentum unter Strafe steht, lässt sich nicht abschließend beantworten. Nach Angaben des UNHCR existiert bislang weder im Zivil- noch Strafrecht eine Bestimmung, die den Übertritt vom Islam zu einer anderen Religionsgemeinschaft unter Strafe stellt. Zudem wird die Freiheit der Religionsausübung durch die derzeit geltende Verfassung ausdrücklich garantiert und niemand darf wegen seiner Religion von Staats wegen diskriminiert werden (Art. 14 der irakischen Verfassung). Jedoch kann in Fällen, in denen das Gesetz keine ausdrückliche Regelung vorsieht, auf die inhaltlich nächstliegende Regelung des islamischen Rechts (Scharia) zurückgegriffen werden. Die Scharia sieht für den Abfall vom islamischen Glauben bzw. für den Übertritt zum Christentum oder zu einer anderen nicht-islamischen Religionsgemeinschaft die Todesstrafe vor. Die Todesstrafe wurde im August 2004 durch die irakische Übergangsregierung für bestimmte, schwerwiegende Delikte wieder eingeführt. Seit September 2005 werden im Irak mit zunehmender Tendenz wieder Hinrichtungen vollzogen. Es ist jedoch bisher kein Fall bekannt geworden, in dem unter Rückgriff auf Bestimmungen der Scharia ein Todesurteil wegen Abfall vom islamischen Glauben oder wegen Konversion zum Christentum durch ein irakisches Gericht ausgesprochen wurde. Zudem sind keine Übergriffe staatlicher Stellen gegen Personen, die vom Islam zum Christentum konvertieren, bekannt geworden (vgl. zum Ganzen: amnesty international, Auskunft an das VG Leipzig vom 7. Dezember 2006; GIGA-Institut für Nahost-Studien, Auskunft an das VG Aachen vom 2. April 2007; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2007)).

Es ist demnach nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines Übertrittes zum christlichen Glauben von staatlicher Seite Verfolgung droht.

Amnesty international geht jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass Konvertiten im Irak damit rechnen müssen, Opfer von Todesdrohungen, physischen Angriffen bis hin zur extralegalen Hinrichtung durch nichtstaatliche Akteure zu werden und stützt die Einschätzung der Gefährdung von Konvertiten auf ihre Erkenntnisse über die allgemeine Sicherheitslage im Irak und die spezielle Situation von Christen im Irak (vgl. amnesty international, Auskunft an das VG Leipzig vom 7. Dezember 2006).

Auch das GIGA-Institut für Nahost-Studien geht davon aus, dass der Abfall vom Islam, wenn er im Irak ernst genommen wird, keine rein private Handlungsweise sondern politischen Hochverrat darstellt und dass für Fundamentalisten und gewalttätige oder gewaltbereite Fanatiker im Irak jeder, der den Islam verlässt, ein Abtrünniger und mit dem Tode zu bestrafen ist (vgl. GIGA-Institut für Nahost-Studien, Auskunft an das VG Aachen vom 2. April 2007).

Ein ausreichender staatlicher Schutz vor den Übergriffen nichtstaatlicher Akteure existiert im Irak nach der allgemeinen Sicherheitslage nicht (vgl. Auswärtigen Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2007)).

Deshalb nimmt das erkennende Gericht an, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass dem Kläger wegen seines Übertrittes zum Christentum bei einer Rückkehr in den Irak zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt wegen seiner Konversion politische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, wenn die Tatsache seines Übertrittes zum Christentum z.B. durch die Nichtteilnahme an islamischen Riten bekannt wird, oder er seinen Glauben öffentlich leben will, indem er z.B. christliche Gottesdienste besucht. Insofern unterscheidet das Gericht zwischen der Gruppe der originären Christen, bei denen es aufgrund mangelnder Verfolgungsdichte nach wie vor keine landesweit bestehende Gruppenverfolgung annimmt (vgl. Urteil vom 3. April 2007 - 16 K 505/06.A -. siehe auch Auskunft des UNHCR an das VG Köln vom 5. April 2007 und einzelnen zum Christentum konvertierten Gläubigen, die aufgrund der im islamischen Weltbild nichtvorgesehenen Abkehr vom Islam besonders im Blickfeld islamischer Fundamentalisten stehen.

Der Kläger hat für das erkennende Gericht glaubhaft gemacht, aus religiöser Überzeugung zum Christentum übergetreten zu sein und seinen Glauben in Deutschland durch Teilnahme an Gottesdiensten zu praktizieren.