VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 25.06.2007 - 11 UE 2243/06 - asyl.net: M11228
https://www.asyl.net/rsdb/M11228
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Zuwanderungsgesetz, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Familienzusammenführung, Kinder, Übergangsregelung, Lebensunterhalt, Krankheit, psychische Erkrankung, Ausweisungsgründe, Straftat, Schuldunfähigkeit, Schizophrenie, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, öffentliche Sicherheit und Ordnung, zwingende Gründe, Unionsbürgerrichtlinie, Wiederholungsgefahr
Normen: AufenthG § 104 Abs. 1; AuslG § 26 Abs. 1; AuslG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 3; AuslG § 26 Abs. 4; AuslG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 1; AuslG § 46 Nr. 2; ARB Nr. 1/80 Art. 14; RL 2004/38/EG Art. 28
Auszüge:

Die Ablehnung der unbefristeten Verlängerung der bis zum 16. Mai 2002 gültigen Aufenthaltserlaubnis des Klägers ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten.

Über den rechtzeitig vor Ablauf der Aufenthaltserlaubnis und weit vor dem 1. Januar 2005 gestellten Antrag des Klägers ist gemäß § 104 Abs. 1 AufenthG unter den Voraussetzungen des bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Ausländergesetzes zu entscheiden. Der Kläger hat nach der demzufolge anzuwendenden Vorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AuslG a.F. Anspruch auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Der Kläger konnte bzw. kann zwar weder zum Zeitpunkt des Ablaufs der letzten Aufenthaltserlaubnis noch zum heutigen Zeitpunkt seinen Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit oder aus eigenen Mitteln bestreiten.

Dies steht dem Anspruch auf unbefristete Verlängerung jedoch nicht als Versagungsgrund gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AuslG a.F. entgegen, da im Fall des Klägers gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1 AuslG a.F. von den Voraussetzungen aus § 26 Abs. 1 Nr. 2 und 3 sowie des Abs. 3 Nr. 3 AuslG a.F. infolge seiner psychischen Erkrankung abzusehen ist.

Der unbefristeten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis steht auch nicht der Versagungsgrund des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AuslG a.F. entgegen. Die zahlreichen Straftaten, die der Kläger schon vor Feststellung der Schuldunfähigkeit mit dem Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 15. März 2004 begangen hatte und für die in zwei Fällen Dauerarrest verhängt wurde, dürften ebenfalls schon im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen worden sein. Sie können deshalb dem Kläger nicht als persönliches Verhalten zugerechnet und daher nicht als auf persönlichem Verhalten beruhend angesehen werden, so dass sie keinen Ausweisungsgrund im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AuslG a. F. darstellen (vgl. dazu Renner, AuslR, 8. Aufl., zur gleichlautenden Vorschrift des § 35 AufenthG, Rdnr. 16). Zwar wurden entsprechende Feststellungen explizit erst in dem Urteil im Strafverfahren über die zuletzt begangenen Straftaten gegenüber seiner Mutter getroffen. Nach dem Ergebnis des in diesem strafgerichtlichen Urteil zugrunde gelegten Gutachtens liegt eine Schizophrenie des desorganisierten Typus mit einem offensichtlich frühen und schleichenden Krankheitsbeginn vor, der schon durch die frühen Diebstahlstaten und Beförderungserschleichungen als Merkmale der aufgrund der Erkrankung beginnenden Persönlichkeitsveränderung gekennzeichnet wird. Der Gutachter hat demnach den erkennbaren Beginn der Erkrankung etwa in das Jahr 1998 datiert. Damit fehlt es jedoch insgesamt an dem vorwerfbaren Verhalten, das allein als bewusster und gewollter, mithin vorsätzlicher Verstoß gegen Rechtsvorschriften einen Ausweisungsgrund im Sinne des hier maßgeblichen § 46 Nr. 2 AuslG a.F. und damit im Sinne des § 26 Abs. 3 Nr. 1 AuslG a.F. darstellen kann.

Der Ausländerbehörde war infolge dessen ein Ermessensspielraum bei der Entscheidung über den Antrag auf unbefristete Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht eröffnet, so dass es nicht entscheidungserheblich darauf ankommt, ob die Begehung einer Vielzahl von Delikten überwiegend geringerer Kriminalität hier infolge der dem Kläger aus Art. 7 und 14 ARB 1/80 etwa zustehenden Rechtsposition hätte berücksichtigt werden dürfen.

Jedenfalls zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren sind weder schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von Art. 14 ARB 1/80 noch gar zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nach Art. 28 RL 2004/38/EG feststellbar (vgl. zur Anwendbarkeit der Richtlinie auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige Hess. VGH, 25.06.2007 - 11 UE 52/07 und 11 UE 2811/05 -), die eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen könnten. Selbst wenn man die über viele Jahre zu beobachtende Häufung von kleineren Straftaten seitens des Klägers berücksichtigt, fehlt es angesichts der relativen Geringfügigkeit der einzelnen Delikte auch bei der Gesamtbetrachtung an einer derartigen Schwere der von dem Kläger ausgehenden Gefahr, die sich als zwingend im Sinn des Art. 28 RL 2004/38/EG darstellen könnte. Zum heutigen Zeitpunkt lässt sich aber auch eine schwerwiegende Gefahr im Sinne von Art. 14 ARB 1/80 nicht feststellen (zur Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung sowie der Berücksichtigung neuer Umstände im Rahmen einer Entscheidung zur Aufenthaltsbeendigung vgl. BVerwG, Urteil v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, InfAuslR 2005, 26). Die Straftaten dürften maßgeblich auf seine - grundsätzlich behandelbare - Erkrankung an einer Psychose sowie den früheren Drogenmissbrauch zurückzuführen sein: Dem zufolge sind nunmehr deutliche Behandlungserfolge festzustellen, und auch das Verhältnis des Klägers zu seiner Mutter, die in den meisten Fällen Opfer insbesondere der von ihm ausgehenden Körperverletzungsdelikte war, hatte eine deutliche Besserung erfahren.