OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 14.06.2007 - 2 R 12/06 - asyl.net: M11235
https://www.asyl.net/rsdb/M11235
Leitsatz:

1. Bei der Rücknahme der an jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die vor dem 01.01.2005 im sogenannten geregelten Verfahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnissen ist auf die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes abzustellen.

2. Die Rücknahmen von unbefristeten Aufenthaltserlaubnissen, die an im geregelten Verfahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereiste jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion erteilt wurden, sind rechtswidrig, wenn sich der Betroffene vor seiner Ausreise aus seinem Heimatstaat zwar bereits in einem Drittstaat aufgehalten hatte, jedoch nicht dorthin übergesiedelt war.

 

Schlagwörter: D (A), Kontingentflüchtlinge, Juden, Erlasslage, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Altfälle, Niederlassungserlaubnis, Übersiedlung, Drittstaat, Ukraine, Israel, Streitwert, Berufungsverfahren
Normen: VwVfG § 48; AufenthG § 23 Abs. 2; AufenthG § 101 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 102 Abs. 1; AufenthG § 103 S. 1; GKG § 52 Abs. 2; GKG § 47 Abs. 2
Auszüge:

1. Bei der Rücknahme der an jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die vor dem 01.01.2005 im sogenannten geregelten Verfahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnissen ist auf die Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes abzustellen.

2. Die Rücknahmen von unbefristeten Aufenthaltserlaubnissen, die an im geregelten Verfahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereiste jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion erteilt wurden, sind rechtswidrig, wenn sich der Betroffene vor seiner Ausreise aus seinem Heimatstaat zwar bereits in einem Drittstaat aufgehalten hatte, jedoch nicht dorthin übergesiedelt war.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässigen Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen haben auch in der Sache Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat auf die gemäß § 17 Abs. 1 AGVwGO erhobene Aufsichtsklage des Klägers zu Unrecht den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 30.11.2004 aufgehoben, denn dieser ist zumindest im Ergebnis rechtmäßig.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Frage der Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides unter Berücksichtigung der vom Kläger gerügten Mängel. Der Kläger macht geltend, dass der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 30.11.2004 rechtswidrig sei, weil die Voraussetzungen für eine Rücknahme der den Beigeladenen erteilten Aufenthaltserlaubnisse nach § 48 SVwVfG vorgelegen hätten. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist der Senat zur Überzeugung gelangt, dass dies nicht der Fall ist.

Der Beigeladene zu 1. wurde als jüdischer Emigrant in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. Die Aufnahme der Beigeladenen zu 2. und 3. erfolgte auf Grund der Familienzugehörigkeit.

Die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der früheren Sowjetunion beruhte auf einem Beschluss der Regierungschefs des Bundes und der Länder (Ministerpräsidentenkonferenz) vom 09.01.1991 in Bonn.

Der Rechtsstatus jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion ergab sich bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes einzig aus einer an die Vorschriften des KontingentflüchtlingsG angelehnten stetigen Verwaltungspraxis, die zwischen den Ländern und mit dem Bund im Wesentlichen über die Innenministerkonferenz abgestimmt und im Erlasswege landesintern festgeschrieben wurde (Vgl. Erlass des Ministeriums des Innern (MdI) zur Aufnahme von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die in entsprechender Anwendung des "Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge" (HumHAG) in Deutschland Aufnahme gefunden haben, vom 21.12.1998 - B 5 5511/9 -; Bayer. VGH, Beschlüsse vom 15.05.2002 - 12 CE 02.659 - und vom 20.12.2004 - 12 CE 04.3232 -, juris;) . Dem durch die Verwaltungspraxis vermittelten Rechtsstatus kam eine ausländerrechtliche Sonderstellung zu, da er sich sowohl von dem der klassischen Kontingentflüchtlinge als auch von dem anderer Ausländer, deren Aufenthalt sich nach dem AuslG bestimmte, unterschied (Vgl. VG Osnabrück, Urteil vom 10.07.2006 - 5 A 53/06 -, juris). Daher können die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion als Gruppe betrachtet nicht als "Kontingentflüchtlinge" im eigentlichen Sinne bezeichnet werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn im Einzelfall ein Verfolgungs- oder Flüchtlingsschicksal nachgewiesen werden kann. Dies ist jedoch bei den Beigeladenen offensichtlich nicht gegeben.

Eine Änderung der Rechtslage hinsichtlich der sich bereits in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Juden aus der ehemaligen Sowjetunion hat sich durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht ergeben. Der Gesetzgeber hat die bisherige jüdische Zuwanderer betreffende Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes ausdrücklich gebilligt und auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. So hat er mit § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bestimmt, dass eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die nach § 1 Abs. 3 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 20. Juli 1980 oder in entsprechender Anwendung des vorgenannten Gesetzes erteilt worden ist, und eine anschließend erteilte Aufenthaltsberechtigung als Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG fortgelten.

Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte somit die künftige Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes allein auf Grundlage der Bestimmungen des AufenthG und der hierzu ergangenen AufenthV erfolgen. Insbesondere hat der Gesetzgeber bekräftigt, unter Abkehr von der bisherigen Verwaltungspraxis den jüdischen Zuwanderern nicht mehr eine den früheren Kontingentflüchtlingen gleichgelagerte Rechtsstellung einzuräumen.

Indes folgt daraus nicht, dass auch die bereits seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion künftig strikt nach den neuen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zu behandeln sind. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die generalklauselartige Formulierung des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum Ausdruck gebracht, dass auch der bisherige besondere ausländerrechtliche Status der jüdischen Zuwanderer unangetastet bleiben soll. Bereits der Wortlaut des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ("insbesondere") verdeutlicht, dass der Gesetzgeber diese Norm als Auffangvorschrift verstanden wissen wollte, um weitere spezielle Überleitungsregelungen, wie sie für Aufenthaltstitel mit § 101 AufenthG getroffen wurden, entbehrlich zu machen. Dies wird auch dadurch verdeutlicht, dass die "klassischen" Kontingentflüchtlinge ihre bislang unmittelbar aus dem HumHAG erwachsende besondere Rechtsstellung nicht durch das Außerkrafttreten des HumHAG verloren haben, da andernfalls die Überleitungsvorschrift des § 103 AufenthG entbehrlich gewesen wäre.

Im Rahmen der Rücknahme der unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse ist zu berücksichtigen, dass Fehler bei der Aufnahme der jüdischen Emigranten im geregelten Verfahren auf die unbefristete Aufenthaltserlaubnis durchschlagen. Denn die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis durch die Ausländerbehörde erfolgte in der behördlichen Annahme, dass sich die Betroffenen entsprechend der Vorgaben des geregelten Verfahrens in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten (Vgl. BVerwG, Urteil vom 05.09.2006 - 1 C 20.05 -, NVwZ 2007, 470 = DÖV 2007, 255).

Die Voraussetzungen für eine Aufnahme der Beigeladenen zu 1. bis 3. in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des geregelten Verfahrens lagen entgegen der Annahme der Ausländerbehörde der Beklagten und der deutschen Botschaft in Kiew vor. Entscheidend ist dabei auf den Beigeladenen zu 1. abzustellen, da allein dessen jüdische Religionszugehörigkeit die Möglichkeit der Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland im geregelten Verfahren eröffnet hat. Ein Ausschluss eines Anspruchs auf Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland kam im vorliegenden Fall allein nach Ziff. II 2. des Erlasses vom 25.03.1997 in Frage. Danach war Voraussetzung für eine Aufnahme, dass die Antragsteller nicht bereits in einen Drittstatt übergesiedelt waren.

Im hier zu entscheidenden Verfahren ergibt sich aus den vorliegenden Unterlagen, dass seitens der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere von den vor Ort tätigen Auslandsvertretungen, jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion eine Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland verweigert wurde, wenn sie vorher bereits einmal in einen anderen Staat übersiedelt waren – unabhängig davon, ob sie sich noch dort aufhielten oder zwischenzeitlich auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zurückgekehrt waren. Voraussetzung für eine willkürfreie Anwendung dieser Voraussetzung ist jedoch, dass tatsächlich eine Übersiedlung in einen Drittstaat stattgefunden hat. Begrifflich setzt eine Übersiedlung dabei voraus, dass die betreffende Person aus freiem Willen den Aufenthalt in ihrem Heimatland aufgibt, um sich dauerhaft in einem anderen Staat aufzuhalten. Im Fall des Beigeladenen zu 1. kann jedoch nicht festgestellt werden, dass diese Voraussetzungen hinsichtlich seines Aufenthaltes in Israel vorgelegen haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beigeladene zu 1. während seines Aufenthalts in Israel noch minderjährig war und er nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme nach nur maximal drei Monaten in die Ukraine zurückgekehrt ist.

 

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 20.000,- Euro festgesetzt.

Im Hinblick darauf, dass die Aufsichtsklage das immaterielle Interesse der Rechtmäßigkeit der Verwaltung verfolgt und eine sonst mögliche Weisung ersetzt, die sich als Instrument staatlicher Organisation nicht in einem Geldwert quantifizieren lässt, ist der Auffangwert in Anwendung der §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 52 Abs. 2 GKG der Streitwertfestsetzung zugrunde zu legen (vgl. OVG des Saarlandes, Beschluss vom 24.11.2000 - 3 R 229/00 -). Da dem vorliegenden Verfahren die Aufhebung von vier Rücknahmebescheiden durch den angefochtenen Widerspruchsbescheid der Beklagten zugrunde liegt, ist der Streitwert auf 20.000,- (4 x 5.000,-) Euro festzusetzen.

Der Umstand, dass sowohl die Beklagte – hinsichtlich des Beigeladenen zu 1. – als auch die Beigeladenen Berufungskläger sind, führt nicht zu einer Erhöhung des Streitwertes über 20.000,- Euro hinaus. Denn nach § 47 Abs. 2 GKG ist der Streitwert im Berufungsverfahren durch den Wert des Streitgegenstandes des ersten Rechtszuges begrenzt, wenn nicht der Streitgegenstand erweitert wird.