OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 22.08.2007 - 4 LA 40/07 - asyl.net: M11237
https://www.asyl.net/rsdb/M11237
Leitsatz:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei mehr.

 

Schlagwörter: Türkei, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, Verfolgungsdichte, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 78 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei mehr.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist nicht begründet.

Die Beklagte beruft sich auf den Zulassungsgrund des § 78 Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG und wirft als grundsätzlich bedeutsam und klärungsbedürftig die Frage auf, ob Yeziden bei einer Rückkehr in die Türkei hinreichend vor erneuter politischer Verfolgung sicher sind. In dieser Form würde sich die Frage im Berufungsverfahren nicht stellen.

Das Verwaltungsgericht hat entscheidungserheblich darauf abgestellt, dass zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus der Türkei im Jahre 1994 Yeziden - wie der Kläger - in ihren angestammten Siedlungsgebieten im Südosten der Türkei wegen ihrer Religionszugehörigkeit einer mittelbaren Gruppenverfolgung durch die muslimische Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt waren und der Kläger - ungeachtet seiner eigenen Betroffenheit - (schon) deshalb "vorverfolgt" sei (S. 11 des Urteilsabdrucks). Dem tritt der Zulassungsantrag nicht entgegen. Weiterhin hat das Verwaltungsgericht entschieden, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Überprüfung auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass Yeziden nach wie vor einer asylerheblichen Gruppenverfolgung in der Türkei ausgesetzt sind.

Die mit dem Zulassungsantrag aufgeworfene Frage stellt hierauf nicht ab, sondern allgemein darauf, ob Yeziden bei einer Rückkehr in die Türkei hinreichend vor erneuter politischer Verfolgung sicher sind. Auch wenn diese Frage verneint wird, bedeutet dies nicht, dass die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung, wovon das Verwaltungsgericht ausgeht, erfüllt sind (siehe hierzu BVerwG, Urteil vom 23.02.1988 - 9 C 85/87 - BVerwGE 79, 79). Der Zulassungsantrag legt auch nicht dar, dass die Frage der hinreichenden Sicherheit vor (Einzel-)Verfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit von entscheidungserheblicher Bedeutung ist (siehe zur Abgrenzung der Gruppenverfolgung von der Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit BVerwG, Beschluss vom 05.05.2003 - 1 B 234/02 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 271 mwN).

Selbst wenn man die Fragestellung dahingehend interpretieren wollte, dass von grundsätzlicher Bedeutung sei, ob Yeziden bei einer Rückkehr in die Türkei vor erneuter politischer Gruppenverfolgung hinreichend sicher sind, rechtfertigt dies die Berufungszulassung nicht, weil es für die Beantwortung dieser Fragen, der Durchführung der Berufung nicht bedarf.

Durch die obergerichtliche Rechtsprechung (OVG Schleswig, Urteil vom 29.09.2005 - 1 LB 38/04 -; OVG Münster, Urteil vom 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A - ZAR 2006, 215) ist hinreichend geklärt, dass Yeziden in der Türkei keiner (mittelbar staatlichen) Gruppenverfolgung mehr unterliegen.

Soweit das Verwaltungsgericht seine abweichende Auffassung im wesentlichen auf die Stellungnahme des Gutachters Azad Baris vom 17. April 2006 an das OVG Sachsen-Anhalt stützt, kann dem nicht gefolgt werden. Es kann dahinstehen, ob wegen der persönlichen Betroffenheit des Sachverständigen durchgreifende Zweifel an seiner Unparteilichkeit bestehen (so VG Osnabrück, Urteil vom 10.04.2007 - 5 A 25/07 -), jedenfalls ist dem Verwaltungsgericht Osnabrück darin zu folgen, dass die abschließende Bewertung, dass eine "verheerende" Verfolgungsdichte in der Türkei vorliege, angesichts der von ihm recherchierten Vorfälle nicht ansatzweise gerechtfertigt ist. Vielmehr wäre die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte selbst dann nicht erreicht, wenn die ca. 20 Vorfälle der letzten Jahre, die der Sachverständige im Anhang aufführt und in denen konkret unter Namensnennung Übergriffe von Muslimen auf Yeziden geschildert werden, alle als asylrechtsrelevante Verfolgungsschläge angesehen werden. Auch wenn man mit dem Sachverständigen davon ausgeht, dass die Anzahl der in ihren Siedlungsgebieten der Türkei verbliebenen Yeziden ca. 400 Personen beträgt, wird die für die Regelvermutung, dass jedes Mitglied der yezidischen Religionsgruppe verfolgt wird, erforderliche Anschlagsdichte nicht erreicht.

Hinzu kommt, dass die für die Regelvermutungen in Ansatz gebrachten Verfolgungsschläge auf entsprechender Tatsachengrundlage konkret belegt sein müssen (BVerwGE, Urteil vom 30.04.1996 - 9 C 170.95 -). Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (Stellungnahme vom 26.01.2007 an das OVG Niedersachsen) haben sich zumindest einige der von dem Sachverständigen Baris geschilderten Vorfälle so nicht zugetragen, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, alle Vorfälle seien asylrechtlich relevant.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass auch die neuere Entwicklung keine Veranlassung gibt, die Richtigkeit der Auffassung des OVG Münster (aaO) sowie des OVG Schleswig (aaO), dass gegenwärtig Yeziden in der Türkei keiner mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung unterliegen, ernstlich in Zweifel zu ziehen.

Im vorliegenden Falle wäre allerdings im Berufungsverfahren im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht angenommene Vorverfolgung des Klägers wegen Gruppenverfolgung entscheidungserheblich, ob auch mit hinreichender Sicherheit das Aufflammen einer Gruppenverfolgung auszuschließen ist (siehe BVerwG, Urteil vom 23.02.1988, aaO). Diese vom Zulassungsantrag ebenfalls nicht aufgeworfene Frage lässt sich anhand der bisher ergangenen Rechtsprechung und der vorliegenden Erkenntnismittel ohne weiteres beantworten.

Hinreichende Sicherheit ist nicht gegeben, wenn ernstliche Zweifel daran bestehen, dass die gegenwärtige Situation (keine Gruppenverfolgung) fortbestehen wird. Dies setzt nicht voraus, dass Übergriffe von Muslimen auf Yeziden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sind (BVerwGE, Urteil vom 23.02.1988, aaO). Vielmehr müsste zum einen zu befürchten sein, dass sich die Anzahl der Verfolgungsschläge deutlich erhöhen wird und zum anderen Anhaltspunkte dafür gegeben sein, dass der türkische Staat nicht schutzfähig oder schutzbereit ist.

Kernpunkt der Auseinandersetzungen der Yeziden mit der muslimischen Mehrheitsbevölkerung ist nicht die Religionsausübung. Ausgangspunkt nahezu aller bekannten Übergriffe sind vielmehr Landbesitzstreitigkeiten zwischen Yeziden und Muslimen, die zum einen darin zum Ausdruck kommen, dass Yeziden in Anknüpfung an ihre Religionszugehörigkeit und damit ihre gegebene Sondersituation insbesondere in der Vergangenheit verdrängt wurden (Landnahme durch kurdische Muslime) und nunmehr ihrer Rückkehr Widerstand entgegengesetzt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass im Falle der massenweisen Rückkehr der Yeziden in ihre angestammten Siedlungsgebiete der Widerstand der Muslime wächst und dies auch zu vermehrten tätlichen Übergriffen führen wird. Ob es zu einer massenweisen oder auch nur deutlich verstärkten Rückkehr von Yeziden in den Südosten der Türkei kommen wird, lässt sich zurzeit nicht absehen. Festzustellen ist allerdings, dass die türkischen Staatsorgane gegenwärtig bereit und in der Lage sind, Minderheiten und auch Yeziden zu schützen und ihre Rechte im Hinblick auf Immobilieneigentum durchzusetzen. Hierzu haben sowohl das OVG Schleswig (Urteil vom 29.09.2005, aaO) als auch das OVG Münster (OVG Urteil vom 15.02.2006, aaO) Ausführungen gemacht, auf die Bezug genommen werden kann. Dass Betroffene diesen Schutz nicht für ausreichend halten und sich ein stärkeres Durchgreifen des türkischen Staates wünschen, ändert daran nichts. Auch wenn nicht zu übersehen ist, dass der türkische Staat ein Interesse daran hat, kurdische Muslime an sich zu binden (siehe hierzu Gutachten des Sachverständigen Baris, S. 9), ist nicht zu erwarten, dass er es - unter den Augen der Weltöffentlichkeit - zu Massenausschreitungen und damit zu einer Gruppenverfolgung von Yeziden kommen lassen wird. Dies kann jedenfalls so lange ausgeschlossen werden, als ein Interesse an der Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen zur EU fortbesteht. Die genannten Obergerichte haben hierzu ebenfalls Ausführungen gemacht, denen - auch im Hinblick auf den hier anzuwendenden Maßstab der hinreichenden Sicherheit zur Gruppenverfolgung - zuzustimmen ist.

Eine andere Frage ist, ob Yeziden hinreichend sicher vor Einzelverfolgung wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit sind. Diese Frage wirft der Zulassungsantrag - wie ausgeführt - zwar auf, sie war aber für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass diese Frage (abhängig von den Gegebenheiten des Einzelfalles) in der Regel zu verneinen ist. Die hinreichende Sicherheit vor Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit entfällt nicht erst dann, wenn aufgrund der festgestellten und belegten Verfolgungsschläge eine Verfolgungsdichte gegeben ist, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigten. Schon aufgrund der Tatsachen, dass die Yeziden in der Vergangenheit gruppenverfolgt waren (das OVG Münster hat eine Gruppenverfolgung bis in das Jahr 2001 angenommen, siehe Urteil vom 22.01.2001 - 8 A 4154/99 A -), der türkische Staat keine "Kehrtwende" in dem Sinne vorgenommen hat, dass er Übergriffe von Muslimen auf Yeziden "schon im Keim erstickt" und Übergriffe auf Yeziden, jedenfalls im Falle ihrer Rückkehr in die angestammten Siedlungsgebiete, verbunden mit der Absicht, Land (wieder) in Besitz zu nehmen, zu verzeichnen sind, bestehen ernstliche Zweifel an der Sicherheit dorthin zurückkehrender Yeziden. Insoweit teilt der Senat die Auffassung des OVG Rheinland-Pfalz (siehe hierzu im einzelnen Urteil vom 05.06.2007 - 10 A 11576/06 -), dass für Yeziden (bei Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs) im Allgemeinen eine Rückkehr in ihre angestammten Siedlungsgebiete zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zumutbar ist.