VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 24.07.2007 - 1 K 1505/06 - asyl.net: M11259
https://www.asyl.net/rsdb/M11259
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Rechtslage, Bundesverwaltungsgericht, Widerruf, Rücknahme, Ermessen, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Befristung, Wiederholungsgefahr
Normen: VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 48 Abs. 1; VwVfG § 49 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7; EMRK Art. 8; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

I. Der zulässige Hauptantrag, der auf eine Aufhebung der bestandskräftigen Ausweisung zielt (vgl. dazu, dass die Wirkungen von Ausweisungen, die vor diesem Zeitpunkt gegenüber nach dem ARB 1/80 privilegierten türkischen Staatsangehörigen verfügt und bestandskräftig geworden sind, mit dem Inkrafttreten des AufenthG am 1.1.2005 nicht entfallen sind: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.1.2007 - 13 S 451/06 InfAuslR 2007, 182; Beschl. v. 13.4.2006 - 1 S 734/06 - VENSA), ist unbegründet.

Einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im engeren Sinne gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG sowie eine daran anschließende (positive) Sachentscheidung (zur Verfahrens- und Entscheidungsstruktur im Rahmen des § 51 LVwVfG vgl. für die bundesrechtliche Regelung: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Auflage 2001, § 51 Rnrn. 22 ff.: eigenständige Neubescheidung ohne Bezug zu §§ 48, 49 VwVfG) hat das RP Freiburg zu Recht abgelehnt. Die geltend gemachte Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt keine neue Rechtslage dar. Wegen Einzelheiten kann insoweit auf den Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom 29.3.2007 (11 S 2147/06 dort Entsch.-Seiten 5/6) im Beschwerdeverfahren, welches das PKH-Begehren der Klägerin im erledigten Verfahren 1 K 1026/06 betraf, Bezug genommen werden.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Rücknahme oder Widerruf der Ausweisung. Mit Blick auf einen Widerruf gemäß § 49 LVwVfG folgt dies bereits daraus, dass dieser spezialgesetzlich durch das Institut der Befristung i.S.v. § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG jedenfalls insoweit ausgeschlossen ist, als es um für den Fortbestand des Ausweisungszwecks erhebliche Sachverhaltsänderungen geht. Im übrigen ist nur die Rücknahme einschlägig, weil es sich bei der Ausweisung um einen (siehe sogleich) rechtswidrigen Verwaltungsakt handelt, für den § 49 LVwVfG nicht gilt.

Eine Rücknahme hat das RP Freiburg rechtsfehlerfrei abgelehnt. Zutreffend ist die Behörde davon ausgegangen, dass grundsätzlich gemäß § 48 Abs. 1 LVwVfG in die Überprüfung, ob eine Rücknahme stattfinden soll, einzutreten war. Die Ausweisung vom 8.10.1999 ist nämlich rechtswidrig gewesen, weil der Klägerin eine assoziationsrechtliche Rechtsposition gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zustand.

Umstände, nach denen sich das der Behörde von § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eingeräumte Ermessen dahin verdichtet hätte, dass nur die Rücknahme des Bescheides ermessensfehlerfrei wäre, liegen nicht vor. Bei der Ausübung des Rücknahmeermessens ist in Rechnung zu stellen, dass dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit prinzipiell kein größeres Gewicht zukommt als dem Grundsatz der Rechtssicherheit, sofern dem anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" ist, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt.

Von einer offensichtlichen Europa- bzw. Assoziationsrechtswidrigkeit kann angesichts des Zeitpunkts der Ausweisungsentscheidung im Jahr 1999 – über 5 Jahre vor Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung – nicht ausgegangen werden (vgl. in diesem Sinne sogar noch für eine unter dem 5.9.2005 verfügte Ausweisung durch das RP Freiburg: VG Freiburg, Urt. v. 28.3.2007 - 1 K 505/06). Ein Festhalten an der Ausweisung stellt auch keinen Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Effizienzgebot dar. Denn die Klägerin hat es durch die Zurücknahme ihrer damaligen Klage versäumt, die Ausweisung einer gerichtlichen Überprüfung auf eine Vereinbarkeit mit Gemeinschafts/Assoziationsrecht zuzuführen. Wie der EuGH im Urteil vom 19.9.2006 (C392/04 und C422/04 [I 21] - InfAuslR 2006, 439) ausgeführt hat, verlangt das Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist.

Zutreffend hat das RP Freiburg schließlich eine Abwägung von öffentlichen Belangen (Rechtssicherheit) und privatem Interesse (materielle Gerechtigkeit) auch unter dem Gesichtspunkt der Frage nach "schlechthin unerträglichen" Auswirkungen für die Klägerin vorgenommen.

Eine schlechthin unerträgliche Wirkung hat die Aufrechterhaltung der Ausweisung auch nicht vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK. Allerdings kann die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Fall des unwiederbringlichen Verlusts für das Privatleben konstitutiver Beziehungen nicht durch eine Befristung ihrer Wirkungen erreicht werden, so etwa, wenn das Aufenthaltsrecht nach dem Wegfall der Bindungen an das Bundesgebiet eine Wiedereinreise grundsätzlich nicht vorsieht, und der spätere (im Wege der Befristung der Sperrwirkungen eintretende) Wegfall des Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG daher ohne praktische Wirkung bleibt (BVerfG, Beschl. v. 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 soweit ersichtlich nur veröffentlicht auf der Internethomepage des Gerichts unter Entscheidungen > Rubrik Mai 2007 > Datum 10.5.; weniger streng: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 13.6.2000 - 13 S 1378/98 VBlBW 2001, 23, der darauf abstellt, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 5 AuslG [jetzt § 25 Abs. 5 AufenthG] könne auch auf eine vorherige Ausreise des Ausländers verzichtet werden). Im Fall der Klägerin existiert jedoch eine bestandskräftige Ausweisung, die im Jahr 1999 auch nach Ermessen hätte ernsthaft in Betracht kommen können. Die Aufrechterhaltung dieser Ausweisung bedeutet zwar, dass damit endgültig der Verlust ihres Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 feststeht (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG). Dies hat ferner zur Folge, dass nach dem Ende der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG sich ein türkischer Staatsangehöriger nicht (mehr) auf ein Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 berufen kann, also einem (normalem) türkischen Staatsangehörigen gleichgestellt ist, der in das Bundesgebiet einreisen will (Armbruster, in: HTK-AuslR /ARB 1/80 /Art. 14 05/2007 Nr. 2 und Nr. 9). Da sich die Klägerin jedoch wirksam und effektiv im Rahmen des Befristungsanspruchs nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG darauf berufen kann, eine Aufenthaltsbeendigung verstoße gegen Art. 8 EMRK (dazu sogleich unter II.), wird sie im Ergebnis durch eine Aufrechterhaltung der früheren Ausweisung nicht unerträglich belastet.

II. Erfolgreich ist hingegen der zulässige Hilfsantrag der Klägerin.

Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG werden die in den vorangehenden Sätzen 1 und 2 bezeichneten (Sperr-) Wirkungen der Ausweisung auf Antrag in der Regel befristet.

Vorliegend kommt der Schutz des Art. 8 EMRK der Klägerin zugute. Sowohl die Klägerin als Migrantin der zweiten Generation als auch ihre beiden Kinder ... (17 Jahre alt – sie wird am ... 18 Jahre) und ... (10 Jahre alt – er wird am ... 11 Jahre) – sie sind Migranten der dritten Generation – können sich auf den Schutz des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen. Die mit einer längeren Befristung – und sei es auch nur von wenigen Monaten – verbundene Folge einer Rückkehr der Klägerin in Türkei hätte mehrfache, erheblich nachteilige Folgen, die diesen Eingriff im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft nicht als notwendig bzw. nicht als zumutbar darstellen.

Eine Rückkehr der Klägerin in die Türkei würde entweder einen unzumutbaren Zwang auf die minderjährigen Kinder ausüben, ihr zu folgen, oder aber eine unzumutbare Trennung nach sich ziehen. Es ist davon auszugehen, dass ... und ... dauerhaft in Deutschland bleiben dürfen. Dies folgt entweder daraus, dass sie ihrerseits gemäß Art. 7 ARB 1/80 assoziationsbegünstigt begünstigt sind, oder jedenfalls daraus, dass ihnen i. V. m. Art. 8 Abs. 1 EMRK und den Vorschriften über die Aufenthaltserlaubnis ein nationales Recht zusteht. Die beiden Kinder sind nämlich hier geboren und haben Zeit ihres Lebens – das sind im heutigen Entscheidungszeitpunkt über 17 bzw. über 10 Jahre – in diesem Land und seinem kulturellen sprachlichen Umfeld gelebt und sind hier bislang zur Schule gegangen. Unabhängig davon, ob sie die türkische Sprache zumindest in Grundzügen beherrschen mögen, haben sie sonst offensichtlich keine Bindungen zur Türkei – alle nahen Familienangehörigen leben offensichtlich ebenfalls in Deutschland –, sodass ihnen als faktischen Inländern eine Rückkehr dorthin bzw. ein Leben dort unzumutbar wäre.

Der Gesichtspunkt einer von der Klägerin angesichts späterer einschlägiger Betäubungsmittelstraftaten auch im heutigen Zeitpunkt ausgehenden Wiederholungsgefahr muss vor diesem gesamten Hintergrund zurücktreten.