VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 17.07.2007 - 10 A 918/05 - asyl.net: M11271
https://www.asyl.net/rsdb/M11271
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Anerkennungsrichtlinie, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, Religionsfreiheit, Religion, religiöses Existenzminimum, Pfingstgemeinden, Christen, Assembly of God, Ahmadinedschad, Folter, Inhaftierung, Strafverfahren, Missionierung, religiös motivierte Verfolgung, Apostasie, Konversion
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 9; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

1. Die Klage der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK hinsichtlich des Iran feststellt; hierzu ist die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.11.2005 gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu verpflichten.

Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin wegen ihres – ernsthaften – Glaubenswechsels vom Islam zum Christentum (a.) bei einer Rückkehr in den Iran verfolgt und dabei in ihrer Religionsfreiheit verletzt würde (b.); hiervor ist sie durch Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 9 EMRK zu schützen.

a. Das Gericht hat an der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit der Konversion der Klägerin zum Christentum keinen Zweifel.

b. Wegen ihrer Abkehr vom Islam und der Annahme des christlichen Glaubens droht der Klägerin im Heimatland jedenfalls dann Verfolgung, wenn sie nach ihrem fest vollzogenen Glaubenswechsel ihren christlichen Glauben im Iran nach außen erkennbar vertritt, danach lebt und an religiösen Riten im öffentlichen Bereich oder in Gemeinschaft mit anderen, so an öffentlichen Gottesdiensten, teilnimmt (1) und sich durch Missionieren religiös betätigt (2).

(1) Es erscheint beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin im Iran staatlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sein würde, wenn sie dort ihren christlichen Glauben nach außen erkennbar, insbesondere durch eine regelmäßige Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten, praktizieren würde.

Das Gericht geht weiter davon aus, dass asyl- bzw. abschiebungsrelevante Übergriffe wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion nach jetzt geltender Rechtslage nicht erst dann vorliegen, wenn auch die Religionsausübung im privaten Bereich, also abseits der Öffentlichkeit und in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen im sog. "forum internum", verfolgt wird (vgl. zu diesem bisherigen Verständnis des Schutzes des religiösen Existenzminimums: VG Hamburg, Urteile vom 21.6.2005 - 10 A 213/02 -, 19.7.2005 - 10 A 263/05 -, 17.8.2005 - 10 A 275/03 -, 13.10.2005 - 10 A 182/03 und zuletzt vom 31.8.2006 - 10 A 941/04; OVG Hamburg, Urteile vom 21.10.2005 - 1 Bf 298/01.A m.w.N und 24.3.2006 - 1 Bf 15/98.A -, juris; BVerfG, Beschluss vom 1.7.1987 - 2 BvR 478, 962/86 -, BVerfGE 76, 143; BVerwG, Urteil vom 20.1.2004 BVerwG - 1 C 9.03 -, InfAuslR 2004, 319). Diese Rechtsprechung wurde ausdrücklich auch auf den durch § 53 Abs. 4 AuslG bzw. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK vermittelten Schutz erstreckt, da dieser jedenfalls nicht weiter reichen könne als der Schutz, der bei asylrechtlich relevanten Eingriffen in das religiöse Existenzminimum nach den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts hierzu entwickelten Grundsätzen gewährt werde (BVerwG, Urteil vom 24.5.2000 - 9 C 34/99 -; OVG Sachsen, Urteil vom 4.5.2005 - A 2 B 524/04.A m.w.N.; BayVGH, Beschluss vom 2.5.2005 - 14 B 02.30703 -; alle in juris). Die bisherige Rechtsprechung kann nicht mehr aufrechterhalten werden.

Dies ergibt sich jedenfalls daraus, dass die Richtlinie 2004/83/EG mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 10.10.2006 unmittelbar geltendes Recht und damit von den Gerichten bei der Anwendung und Auslegung des Rechts zu beachten ist. Bei der Auslegung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK ist hier Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie zu berücksichtigen. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere "die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind". Die Richtlinie legt dabei ein weites Verständnis der Religion zugrunde. Darunter fällt insbesondere jede theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugung.

Danach kann die bereits erwähnte Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten werden (vgl. auch die Hinweise des Bundesministeriums des Innern vom 13.10.2006 zur Anwendung der Richtlinie, S. 9). Für die Auslegung des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 9 EMRK im Lichte von Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie bedeutet dies, dass relevante Eingriffe bereits dann anzunehmen sind, wenn die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, wie den für die christliche Religion allgemein üblichen und vorgesehenen öffentlich zugänglichen Gottesdiensten in Gotteshäusern oder unter freiem Himmel, Verfolgung hervorruft (ebenso OVG Lüneburg, Urteil vom 19.3.2007 - 9 LB 373/06 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.6.2006 - A 2 S 571/05 -, AuAS 2006, 175; VG Potsdam, Urteil vom 5.3.2007 - 1 K 2959/96.A -, ASYLMAGAZIN 2007, 22; VG Düsseldorf, Urteil vom 20.2.2007 - 22 K 3453/05.A -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 8.2.2007 - 9 K 2279/06.A -, juris; VG Ansbach, Urteil vom 23.1.2007 - AN 3 K 06.30870 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 18.1.2007 - 5 E 3970/06.A -, AuAS 2007, 55, 56; VG Lüneburg, Urteil vom 15.1.2007 - 1 A 115/04 -, juris; VG Meiningen, Urteil vom 10.1.2007 - 5 K 20256/03.Me -, juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.10.2006 - A 6 K 10463/04 -, AuAS 2007, 57; VG Düsseldorf, Urteil vom 15.8.2006 - 2 K 2682/06.A -, juris; VG Bayreuth, Urteil vom 27.4.2006 - B 3 K 06.30073 -, juris). Staatliche Beschränkungen und Verbote in die Öffentlichkeit hineinwirkender Formen religiöser Betätigung, die nach der früheren Rechtsprechung selbst dann noch keine asylrechtlich erhebliche Verfolgung darstellten, wenn sie nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft zum unverzichtbaren Inhalt der Religionsausübung gehören, sind nunmehr vom Religionsbegriff umfasst.

Die gegenteilige Ansicht einiger Gerichte, dass weiterhin nur Verletzungen des "forum internum" Verfolgungshandlungen darstellen (VG Arnsberg, Urteil vom 26.1.2007 - 12 K 1938/06.A -, juris; vgl. VG München, Urteil vom 22.1.2007 - M 9 K 06.51034 -, juris), findet in der Richtlinie keine Stütze. Es ist nichts dafür erkennbar, dass die Richtlinie zwar den Begriff der Religion umfassend definiert, die Beeinträchtigung jedoch nur eines Ausschnitts (Kerngehalts) davon als verfolgungsrelevant ansieht. Die abweichende Auffassung vermengt die Begriffe des Verfolgungsgrundes nach Art. 10 und der Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 der Richtlinie und beachtet nicht, dass die Verfolgungsgründe nach Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie über das bisherige religiöse Existenzminimum hinausgehen. Ob die jeweiligen religiösen Betätigungen nach Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie dann auch eine Verfolgungshandlung nach sich ziehen, ist eine insoweit gesondert zu betrachtende Frage, als die Reichweite der relevanten Verfolgungsgründe hiervon nicht beeinflusst werden kann. Im Übrigen bliebe bei diesem Verständnis der Richtlinie auch kein Raum für eine Flüchtlingsanerkennung wegen des Verfolgungsgrundes der öffentlichen Religionsausübung.

Allerdings ist auch nicht jede Diskriminierung in dem so verstandenen religiösen Schutzbereich gleichzeitig Verfolgung wegen der Religion, sondern sie muss sich als ernsthafter Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen. Dies ist erst dann der Fall, wenn die auf eine häuslich-private oder öffentliche Religionsausübung gerichtete Maßnahme zugleich auch mit einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Betroffenen verbunden ist oder zu einer entsprechenden "Ausgrenzung" führt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.6.2006, a.a.O.). Dementsprechend formuliert Art. 9 der Richtlinie, welche Handlungen Verfolgung im Sinne des Art. 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen. Nach Art. 9 Abs. 2 b) der Richtlinie können auch gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, Verfolgung sein (vgl. VG Meiningen, Urteil vom 10.1.2007, a.a.O.).

Weiter geht das Gericht nach Auswertung der verschiedenen Auskünfte davon aus, dass es aktuell für die Klägerin als zum Christentum konvertierte ehemalige Muslimin entgegen ihrer bisher hier praktizierten Religionsausübung im Iran nicht möglich ist, regelmäßig an offiziellen christlichen Gottesdiensten teilnehmen zu können, ohne sich der Gefahr asylrelevanter staatlicher Repressalien auszusetzen. Dies folgt aus einer Betrachtung der Situation der christlichen (Frei-) Kirchen im Iran und insbesondere der Situation der Konvertiten, wie sie sich in neuerer Zeit darstellt. Offen bleiben kann dabei, ob insoweit in jüngster Zeit auch eine Verschärfung der Lage eingetreten ist, als eine asylrechtlich beachtliche Gefährdung bereits aus der Religionsausübung im privaten Bereich folgt und nicht einmal mehr das religiöse Existenzminimum im Sinne früherer Rechtsprechung gewahrt ist (so VG Düsseldorf, Urteil vom 20.2.2007, a.a.O.).

Nach Auskünften des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts ist davon auszugehen, dass zum Christentum konvertierten Muslimen die Teilnahme an christlichen Gottesdiensten nicht erlaubt ist (Auswärtiges Amt vom 15.12.2004 und Deutsches Orient-Institut vom 6.12.2004). Dies führt dazu, dass die Teilnahme von Apostaten an Gottesdiensten der alteingesessenen, ethnisch geprägten christlichen Glaubensgemeinschaften, wie den armenischen, assyrischen und chaldäischen Christen, im Iran auf jeden Fall ausgeschlossen ist.

Ob danach im Iran für Konvertiten der Besuch öffentlicher Gottesdienste bzw. eine Bekundung des christlichen Glaubens in sonstiger Weise in der Öffentlichkeit möglich ist, wird uneinheitlich beantwortet. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.12.2004 sei – zum damaligen Zeitpunkt – seit mehr als vier Jahren weder in den Medien noch durch kirchliche Würdenträger von Aktivitäten berichtet worden, die dazu geführt hätten, dass Apostaten am Betreten der Kirchen anlässlich von Gottesdiensten gehindert wurden (so auch noch Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.6.2005). Die Teilnahme von Apostaten an solchen Gottesdiensten sei damit nicht ausgeschlossen. Nach Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 6.12.2004 sei die Teilnahme an solchen Gottesdiensten möglich, wenn nicht kontrolliert werde, was ganz unterschiedlich sei. Im Zeitpunkt der Auskunft werde die "Assembly of God Church" in Teheran nicht kontrolliert. Das könne sich aber immer mal ändern.

Das Oberverwaltungsgericht Hamburg (zuletzt mit Urteil vom 24.3.2006, a.a.O.) hat die Erkenntnislage in der Weise interpretiert, dass die Teilnahme von Muslimen an öffentlichen oder offiziellen Gottesdiensten christlicher Kirchen zwar nicht erlaubt, aber zur Zeit dennoch möglich sei. Vieles spricht aber auch aufgrund neuerer Auskünfte dafür, dass eine Vielzahl von gläubigen Christen im Iran aus Furcht vor staatlichen Repressalien von vornherein, soweit es ihnen überhaupt möglich ist, zu christlichen Hausgemeinschaften Zuflucht nimmt (vgl. VG Meiningen, Urteil vom 10.1.2007, a.a.O.). Auch hat das Deutsche Orient-Institut in seiner Auskunft vom 6.12.2004 klargestellt, dass sich die Kontrollpraxis jederzeit ändern könne und die christlichen Kirchen gehalten seien, Muslimen – und damit aus iranischer Sicht auch Apostaten – den Zutritt zu den Gottesdiensten zu verwehren.

Aus der aktuellen Auskunftslage ergibt sich hierzu, dass konvertierte Muslime in jüngster Zeit keine öffentlichen christlichen Gottesdienste besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Dies wird durch die Angaben im Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Christen und Christinnen im Iran vom 18.10.2005 bestätigt. Danach werden die Mitglieder evangelikaler Gemeinden gezwungen, Mitgliedsausweise bei sich zu tragen. Zusammenkünfte sind nur sonntags erlaubt und teilweise werden die Anwesenden von Sicherheitskräften überprüft. Die Kirchenführer sollen vor jeder Aufnahme von Gläubigen das Informationsministerium und die islamische Führung benachrichtigen. Kirchenoffizielle müssen Erklärungen unterschreiben, dass ihre Kirchen weder Muslime bekehren noch diesen Zugang in die Gottesdienste gewähren. Konvertiten werden, sobald der Übertritt Behörden bekannt wird, zum Informationsministerium zitiert, wo sie scharf verwarnt werden. Durch diese Maßnahmen soll muslimischen Iranern der Zugang zu den evangelikalen Gruppierungen versperrt werden. Sollten Konvertiten jedoch weiter in der Öffentlichkeit auffallen, so durch Besuche von Gottesdiensten, Missionsaktivitäten oder ähnlichem, können sie mit Hilfe konstruierter Vorwürfe wie Spionage, Aktivitäten illegaler Gruppen oder anderen Gründen vor Gericht gestellt werden.

Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass sich die geschilderte Situation für Christen seit der Wahl Mahmoud Ahmadinejads im Juni 2005 und dem Einfluss des "radikal-konservativen Lagers" weiter verschlechtert und Verfolgungsmaßnahmen den Druck nochmals erhöht haben.

Aufgrund der Willkür des iranischen Regimes ist nach der Auffassung des Gerichts bei einer offenen Darstellung des Glaubensübertritts sowie im Falle einer nicht verheimlichten Religionsausübung jedenfalls in einer beträchtlichen Anzahl der Fälle mit der Einleitung von asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass im Iran Folter bei Verhören, in der Untersuchungs- und in regulärer Haft vorkommt. Es gibt im Iran auch weiterhin willkürliche Festnahmen sowie lang andauernde Haft ohne Anklage oder Urteil (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21.9.2006).

Es kann auch nicht eingewandt werden, dass die angeführten Referenzfälle lediglich Einzelfälle – soweit es sich in jüngster Zeit überhaupt noch nur um solche handelt – sind. Das Gericht ist der Überzeugung, dass zum einen nur aus dem Grund bloß "Einzelfälle" angeführt werden, weil andere Fälle lediglich nicht bekannt werden. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die vorliegenden Auskünfte und Berichte die Verfolgungssituation der genannten protestantischen Gemeinden im Iran naturgemäß nur unvollständig wiedergeben. Zum anderen darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die absolute Anzahl der freikirchlichen Bewegungen, die allein zumindest in der Vergangenheit Apostaten Zutritt gewährt haben, so gering ist (vgl. Auskünfte des Deutschen Orient-Instituts vom 1.6.2001 und 6.12.2004), dass bereits relativ wenige Einzelfälle ein bedeutendes Gewicht erlangen. In diesem Zusammenhang erscheinen u.a. die – wenn auch teilweise kurzfristigen – Verhaftungen von 86 Mitgliedern der "Assembly of God" bereits als Anhaltspunkt für eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit.

Angesichts der dargelegten Verfolgungssituation der evangelikalen und freikirchlichen Gruppierungen erscheint die Teilnahme an deren Gottesdiensten für zum Christentum konvertierte Muslime nicht möglich, ohne dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgungsmaßnahmen erleiden müssten.

(2) Die Klägerin ist auch deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bei ihrer Rückkehr in den Iran politischer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK ausgesetzt, weil sie sie sich – auch persönlich – aufgrund des biblischen Missionsbefehls verpflichtet sieht, den Glauben auch in ihrem Heimatland aktiv zu verbreiten und die Missionierung im Iran zu einer beachtlichen Gefährdung führt.

Die Klägerin kann sich unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/83/EG nunmehr auch darauf berufen, dass staatliche Repressalien als Folge von öffentlicher, über den häuslich-privaten Bereich hinausgehender Missionstätigkeit als relevante Verfolgung zu betrachten sind (a. A. die bisherige Rechtsprechung zum "forum internum", vgl. nur BVerwG, Urteil vom 20.1.2004, a.a.O.).

Der Begriff der Religion im Sinne von Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie umfasst auch das Missionieren als sonstige religiöse Betätigung (ohne weitere Begründung ebenso Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), Teil I, Stand: November 2006, IV.1.3. Rn. 57, S. 9; offen gelassen in: VG Ansbach, Urteil vom 23.1.2007, a.a.O.). Die Vorschrift ist so auszulegen, dass auch das Missionieren im öffentlichen Bereich erfasst ist. Gegenteiliges ergibt sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts München (Urteil vom 22.1.2007, a.a.O.) nicht daraus, dass sich der Zusatz "im privaten oder öffentlichen Bereich" in Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie im Normaufbau an die religiösen Riten anschließt und nach Anführung der sonstigen religiösen Betätigungen nicht nochmals wiederholt wird. Allein der mögliche Gedanke, dass die religiösen Riten der Kern einer Religion und für diese unabdingbar sind, so dass sie umfassend und damit auch im öffentlichen Bereich zu schützen sind, während die sonstigen religiösen Betätigungen eventuell weniger schützenswert und daher auch nicht zwingend in der Öffentlichkeit zu gewährleisten sind, rechtfertigt eine entsprechende Einschränkung des Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie nicht.

Dies ergibt eine normsystematische und teleologische Auslegung der Vorschrift. Der Tatbestand der religiösen Riten wird vorweggestellt; dies beinhaltet aber nicht, dass die dort ausdrücklich erwähnte Erstreckung auf den öffentlichen Bereich für den anschließenden allgemeinen Fall der sonstigen religiösen Betätigungen nicht mehr gilt. Die Verwendung des Begriffes "sonstige" Betätigungen – ohne weitere Beschränkungen – lässt vielmehr den Schluss zu, dass es sich bei der religiösen Betätigung um den Oberbegriff handelt, der für den Spezialtatbestand der religiösen Riten – ausdrücklich – näher erläutert wird. Eine Einschränkung des Gehalts des Oberbegriffs durch das Anführen eines Beispiels ist allenfalls ein Ausnahmefall, so dass eine ausdrückliche Regelung erforderlich gewesen wäre, um die Bedeutung der Vorschrift in diesem Sinne zu begrenzen. Weiterhin ergibt sich diese Auslegung normsystematisch auch daraus, dass die im Einklang mit den sonstigen religiösen Betätigungen genannten "Meinungsäußerungen [...] Einzelner", die sich ebenfalls nicht ausdrücklich auf die Ergänzung "im privaten oder öffentlichen Bereich" beziehen, schon nach ihrem (Wortlaut-) Verständnis nicht auf einen privaten Bereich beschränkt werden können. Denn eine Meinungsäußerung hat den Sinn, geistige Wirkung auf die Umwelt auszuüben, und entfaltet diese Wirkung gerade in der Öffentlichkeit. Aus den Verknüpfungen der Satzteile mit "und" oder "oder" lassen sich insoweit bereits deshalb keine Rückschlüsse ziehen, weil diese Wortwahl in den verschiedenen Amtssprachen nicht eineinheitlich verwendet wird (vgl. die englischsprachige Version, in welcher ausschließlich das Wort "or" ("oder") verwendet wird: Official Journal L 304/12 vom 30.9.2004). Neben dieser systematischen Argumentation sprechen auch Sinn und Zweck der Richtlinie gegen eine entsprechende Einschränkung des Schutzes religiöser Betätigungen, da die Richtlinie ein weites Verständnis der Religion zugrunde legt.

Dies zugrunde gelegt ergibt sich für die Klägerin im Iran die beachtliche Wahrscheinlichkeit relevanter Verfolgung aufgrund ihrer dort zu erwartenden Missionierungsaktivitäten.

Zunächst ist das Gericht überzeugt, dass der Missionsauftrag, wie er der christlichen Lehre entnommen werden kann, in gleichem Maße dem religiösen Glauben der Klägerin persönlich entspricht und ihr auch gebietet, im Iran zu missionieren.

Bereits in der früheren Rechtsprechung war anerkannt, dass Christen und Apostaten im Iran nur solange keiner Verfolgung ausgesetzt sind, wie sie den absoluten Machtanspruch der Muslime respektieren und keine Missionierung unter ihnen betreiben, also solange sie nicht auf die Verbreitung der christlichen Religion gerichtet tätig werden.

Auch nach den jüngsten Lageberichten des Auswärtigen Amtes können Mitglieder der religiösen Minderheiten, denen zum Christentum konvertierte Muslime angehören und die selbst offene und aktive Missionierungsarbeit unter Muslimen im Iran betreiben, der Gefahr staatlicher Repressionen ausgesetzt sein. Mögliche Gefahr besteht für alle missionierenden Christen, gleichgültig, ob es sich um konvertierte oder nichtkonvertierte handelt. Staatliche Maßnahmen hätten sich bisher ganz überwiegend gezielt gegen die Kirchenführer und in der Öffentlichkeit besonders Aktive gerichtet, nicht aber gegen einfache Gemeindemitglieder (Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 29.8.2005, 24.3.2006 und 21.9.2006; vgl. insoweit die oben angeführten Referenzfälle). Auch nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.12.2004, das sich auf die Aussagen kirchlicher Würdenträger bezieht, haben (nur) solche Apostaten, die keine Missionierung betreiben, keine staatlichen Repressalien zu befürchten.