VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 16.07.2007 - 5 A 5367/05 - asyl.net: M11274
https://www.asyl.net/rsdb/M11274
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Christen, Chaldäer, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Reformen, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, religiös motivierte Verfolgung, Religion, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Übergriffe, Verfolgungsdichte, interne Fluchtalternative, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, Krankheit, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Grüne Karte, yesil kart
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Den Klägern droht im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG durch nichtstaatliche Akteure (etwa radikale Muslime).

Nach ihrer Rückkehr in die Türkei Ende Juli 2003 bis zu ihrer erneuten Einreise in das Bundesgebiet Anfang April 2005 waren die Kläger keiner landesweiten Verfolgung ausgesetzt.

Auf eine etwaige Gruppenverfolgung der Christen können sich die Kläger für den Zeitpunkt ihrer Ausreise nicht berufen. Denn nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (Nds. OVG, Urteil vom 15. Juni 1999 - 11 L 3456/94 - betr. die Kläger unter Hinweis auf OVG NW, Urteil vom 28. September 1994 - 2 A 1411/91.A - V.n.b.) – der sich der Einzelrichter anschließt – unterlagen Christen in und um K. in den 90er Jahren weder unmittelbar noch mittelbar einer staatlichen gruppengerichteten Verfolgung. Der seinerzeitigen Erkenntnislage (vgl. Urteil des Nds. OVG, a.a.O., S. 13 f.) ließen sich keine hinreichenden Hinweise auf Verfolgungshandlungen von Andersgläubigen entnehmen. Es ist weder von den Klägern dargetan noch sonst ersichtlich, dass sich an dieser Einschätzung Wesentliches für die Zeit von Juli 2003 bis April 2005 und die Region bedeutsam etwas geändert hat. Eine mittelbare Gruppenverfolgung der (syrisch-orthodoxen) Christen hatte das Nds. OVG nur für den Zeitraum ab Frühjahr 1993 – und ab 1998 eingeschränkt als sog. "örtlich begrenzte" Verfolgung – bis Ende 2001 lediglich für Christen im Südosten der Türkei (insbesondere im AE.) anerkannt. Darauf konnten sich die Kläger in ihrem Asylerstverfahren allerdings nicht berufen, weil zum Zeitpunkt ihrer ersten Ausreise 1990 nach der Rechtsprechung eine Gruppenverfolgung der Christen im Südosten der Türkei noch nicht stattfand und sie sich bei der Beurteilung ihrer Rückkehrgefährdung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung 1999 wegen des etwa 1986 selbst gewählten Wohnsitzes in K. (Südwest-Türkei) nicht auf die örtlich begrenzte Gruppenverfolgung in der Osttürkei berufen konnte. Wegen zwischenzeitlicher Verbesserung der Lage in der Türkei und anhaltender Reformbestrebungen unterliegen selbst (syrisch-orthodoxe) Christen aus den ländlichen Gebieten im Südosten der Türkei ab Dezember 2001 keiner örtlich begrenzten mittelbaren Gruppenverfolgung mehr (Nds. OVG, Urteil vom 21. Juni 2005 - 11 LB 256/02 -; VGH BW, Urteile vom 27. Oktober 2005 - A 12 S 919/05 - und - A 12 S 603/05 -; Hess. VGH, Urteil vom 22. Februar 2006 - 6 EU 2268/04.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 06. Dezember 2006 - A 17 K 1611/06 -). Insoweit fehlt es sowohl an einer hinreichenden Verfolgungsdichte als auch an einer Zurechenbarkeit der nur noch vereinzelt stattfindenden Übergriffe gegenüber dem türkischen Staat.

Objektive Nachfluchtgründe liegen ebenfalls nicht vor, da sich die Kläger auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der sog. EU-Qualifikationsrichtlinie (ABl. EU L 304 vom 30. April 2004, S. 12 ff) und neuerer Erkenntnismittel nicht auf eine mittelbare Gruppenverfolgung in der Türkei berufen können.

Religiöse oder religiös motivierte Verfolgung ist allgemeiner Ansicht nach asylrelevante Verfolgung, wenn sie nach Art und Schwere geeignet ist, die Menschenwürde zu verletzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 u.a. - BVerfGE 54, 341, 357; Urteil vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478, 962/86 - BVerfGE 76, 143, 158). Art. 16a GG und mithin § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG schützen daher nach dieser Rechtsprechung jedenfalls vor Verfolgung im privaten Bereich und damit zumindest das "religiöse Existenzminimum". Dieses ist u. a. berührt, wenn dem Betroffenen seine religiöse Identität geraubt wird, indem ihm etwa unter Androhung von Strafen für Leib, Leben oder persönliche Freiheit eine Verleugnung oder gar Preisgabe tragender Inhalte seiner Glaubensüberzeugung zugemutet oder er daran gehindert wird, seinen eigenen Glauben, so wie er ihn versteht, im privaten Bereich und zusammen mit anderen Gläubigen zu bekennen. Steht nicht die Gruppe der Gläubigen im Blickfeld der Verfolger, ist zudem zu fordern, dass die Verfolgung am Herkunftsort die "religiös personale" Identität des Betroffenen betrifft (vgl. BVerfG, Urteil vom 1. Juli 1987, a.a.O., 159 f.).

Religiös motivierte Verfolgung ist ferner anzunehmen bei Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/83/EG des Rats vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie), die seit Ablauf der Umsetzungsfrist bis zum 10. Oktober 2006 unmittelbar gilt.

Zwecks Erreichung einer einheitlichen Asylpolitik dehnt Art. 10 Abs. 1 lit. b der Qualifikationsrichtlinie den Schutz vor Verfolgung wegen Religionszugehörigkeit auf solche Maßnahmen aus, die sich nicht auf den privaten Bereich beschränken, sondern an die öffentliche Glaubensbetätigung anknüpfen (ebenso Nds. OVG, Urteil vom 19. März 2007 - 9 LB 373/06 - Asylmagazin 6/2007, S.10 ff; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Juni 2006 - A 2 S 571/05 - sowie VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Oktober 2006 - A 6 K 10335/04 - Asylmagazin 11/2006, S. 23 f.). Die Vorschrift verpflichtet die Mitgliedstaaten, bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der Begriff der Religion die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, ebenso umfasst wie sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Über den auf der nationalen Ebene der Bundesrepublik Deutschland lediglich gewährten Schutz des sog. religiösen Existenzminimums deutlich hinausgehend, schützt Art. 10 Abs. 1 Satz 1 lit. b der Qualifikationsrichtlinie die religiöse Identität des Einzelnen nunmehr umfassend. Auch das im öffentlichen Bereich sei es durch die Vornahme bestimmter religiöser Riten, sei es durch die Kundgabe einer bloßen religiösen Meinungsäußerung erfolgte Bekenntnis zu einem bestimmten Glauben steht unter dem Schutz vor politischer Verfolgung. Der Betroffene kann im Gegensatz zur früheren Rechtslage in Deutschland nicht mehr darauf verwiesen werden, seinen Glauben bzw. die nach seinem Glauben wesentlichsten Riten allein im Rahmen seiner Privatsphäre zu verrichten. Unter den Begriff der Ausübung religiöser Riten im öffentlichen Bereich fällt insbesondere die ungehinderte Teilnahme an öffentlichen bzw. öffentlich zugänglichen Gottesdiensten in Gotteshäusern, aber auch unter freiem Himmel, wie sie etwa für die christliche Religion allgemein üblich und vorgesehen ist. Die Qualifikationsrichtlinie lehnt sich insoweit an Art. 9 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – an, wonach die jedermann zustehende Religionsfreiheit insbesondere die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion sowie die Freiheit, seine Religion einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht sowie durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben, umfasst. Eine Beschränkung des Schutzes auf die Religionsausübung im privaten oder nachbarschaftlichen Rahmen ist auch danach nicht vorgesehen (wie hier VG Karlsruhe, a.a.O.).

Allerdings ist nicht jede Diskriminierung in dem so verstandenen religiösen Schutzbereich zugleich auch Verfolgung wegen der Religion. Sie muss vielmehr das Maß überschreiten, das lediglich zu einer durch die Diskriminierung eintretenden Bevorzugung anderer führt, und sich damit als ernsthafter Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen (dazu Marx, AsylVfG, 6. Aufl., § 1 Rdnr. 212 m.w.N.). Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die auf die – häuslich-private oder öffentliche – Religionsausübung gerichtete Maßnahme zugleich mit Gefahr für Leib und Leben verbunden ist oder zu einer Ausgrenzung führt (vgl. dazu Marx, a.a.O. Rdnr. 208 f. m.w.N.).

Bei Anwendung dieser Maßstäbe kann nicht angenommen werden, (chaldäische) Christen in der Türkei (oder nur örtlich begrenzt im Südwesten um K.) würden in ihrer Religionsausübung unzumutbar beeinträchtigt. Dass das religiöse Existenzminimum im privaten Bereich durch radikale Muslime nachhaltig beeinträchtigt sei, behaupten die Kläger selbst nicht. Die von ihnen geltend gemachten Störungen bei der öffentlichen Religionsausübung unter Hinweis auf neuere Erkenntnismittel (vgl. Angaben im Tatbestand S. 3 und 5 f.) bleiben im Verhältnis zu der Gesamtzahl der Christen in der Türkei (etwa 100.000 bis 110.000, vgl. Lagebericht des AA vom 11. Januar 2007, S. 24) vereinzelt, so dass sich nicht annehmen lässt, jeder Christ werde selbst alsbald Opfer einer solchen Verfolgungsmaßnahme. Außerdem fehlt es an belastbaren Hinweisen für die Annahme, der türkische Staat sei nunmehr nicht mehr fähig oder in der Lage, den Betroffenen Schutz vor Übergriffen Andersgläubiger zu gewähren.

Nach wie vor rechtfertigen allein die rechtlichen und administrativen Hemmnisse (insbesondere für die Gemeinschaften als solche) nicht die Bejahung einer politischen Verfolgung, da sie die Glaubensbetätigung der einzelnen Mitglieder der Glaubensgemeinschaft auch in dem nunmehr nach der EU-Qualifikationsrichtlinie weiteren Schutzbereich nicht mit der erforderlichen Intensität verletzen. Denn übereinstimmend wird in den Erkenntnismitteln jedenfalls die faktische Religionsausübung als möglich angesehen, wenngleich Status- und Eigentumsfragen weiterhin weitgehend ungelöst sind und sich gesetzgeberische oder gerichtliche Hilfe schleppend gestaltet.

Auch wenn sich nur wenige und kleine Fortschritte im Zusammenleben der christlichen Minderheit mit der islamischen Mehrheitsbevölkerung feststellen lassen, gibt es nach aktueller Erkenntnislage keine ernsthaften Zweifel an dem Fortbestand der grundsätzlichen Schutzwilligkeit und -fähigkeit des türkischen Staats. Es ist nicht ersichtlich, dass die begonnenen Reformbestrebungen im Zusammenhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen beendet wurden oder dauerhaft nachgelassen hätten.

Gesichtspunkte, nach denen den Klägern in der Türkei erhebliche konkrete Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit drohen (§ 60 Abs. 7 AufenthG) sind gleichfalls nicht ersichtlich.

Nach dem überzeugenden Gutachten der TTC vom 26 April 2007 (S. 133 ff d. GA) liegt bei den Klägern weder eine posttraumatischen Belastungsstörung – PTBS – vor noch ergibt sich die Gefahr einer Retraumatisierung. Allerdings leiden die Kläger unter der psychischen Erkrankung Angst und depressive Störung gemischt (ICD-10: F 41.2) (bei der Klägerin zu 2) mit Somatisierungsneigung).

Diese attestierten psychischen Erkrankungen der Kläger lassen sich nach der Überzeugung des Einzelrichters in der Türkei hinreichend behandeln, so dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr keine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes droht.

Zugang zu Gesundheitsdiensten und Beratungsstellen. Die rein medikamentöse Versorgung von psychisch kranken Menschen – etwa nach einer Krankenhausbehandlung – gilt in der Türkei nicht zuletzt auch durch die so genannten Gesundheitszentren als gesichert, namentlich sind antipsychotische Medikamente und Antidepressiva erhältlich. Bedürftige, die die ärztliche Behandlung nicht selbst finanzieren können, haben das Recht, sich von der Gesundheitsverwaltung eine "Grüne Karte" ("yesil kart") ausstellen zu lassen, die zu kostenloser medizinischer Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt.