VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 03.07.2007 - 6 K 2790/07 - asyl.net: M11304
https://www.asyl.net/rsdb/M11304
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Unionsbürger, Unionsbürgerrichtlinie, besonderer Ausweisungsschutz, schwerwiegende Gründe, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Sozialprognose, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, Befristung, Sperrwirkung, Wirkungen der Ausweisung
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 14; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3; ENA Art. 3 Abs. 3; AufenthG § 56 Abs. 1 Nr. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der angefochtenen Ausweisungsverfügung, denn diese ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

Zutreffend ist das Regierungspräsidium in seiner Verfügung auch davon ausgegangen, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei – i.F.: ARB 1/80 – zugute kommt. Dem steht nicht entgegen (vgl. "zu ihm ziehen" in Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80), dass der Kläger im Bundesgebiet geboren und hier stets gelebt hat; auch durch die verhängten und zwischenzeitig verbüßten Freiheitsstrafen sind dem Kläger die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren gegangen (dazu EuGH, Urt. v 11.11.2004 - C 467/02 -, NVwZ 2005, 198; BVerwG, Urt. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 -).

Nicht zu berücksichtigen ist im Falle des Klägers hingegen Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG, wonach gegenüber Unionsbürgern eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie a) ihren Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder b) minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

Diese Regelung gilt zunächst nur für Unionsbürger. Allerdings wird die Übertragung dieser Regelung auf türkische Staatsangehörige, welche ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, diskutiert und teilweise auch bejaht (so u. a.: VG Karlsruhe, Beschl. 09.03.2007 - 6 K 2907/06 - und Urt. v. 09.11.2006 - 2 K 1559/06 -; offen gelassen: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.06.2006 - 11 S 2299/05 -; Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 - und OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 05.12.2006 - 7 A 10924/06 -, verneinend: OVG Nordr.-Westf., Beschl. v. 16.03.2005 - 18 B 1751/04 - und Nieders. OVG, Beschl. v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05 -). Soweit das Regierungspräsidium meint, diese Frage hier deshalb offen lassen zu können, weil für Familienangehörige, die aus Drittstaaten stammen, Art. 28 Abs. 2 der RL 2004/38/EG lediglich die Beschränkung enthält, dass eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt werden darf, der Kläger aber einem Familienangehörigen vergleichbar sei, weil er seine Rechtsposition ebenfalls nur aus seiner Angehörigenstellung zu einem dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Staatsangehörigen ableiten kann (Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80), folgt das Gericht dieser Argumentation nicht. Denn im Unterschied zu einem Familienangehörigen, der nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist, begründet Art. 7 ARB 1/80 bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen unmittelbar und ohne zeitliche Grenze eine eigene Rechtsposition des türkischen Staatsangehörigen. Dieser ist insoweit eher einem Familienangehörigen vergleichbar, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Dieser aber unterfällt ebenfalls der Bestimmung des Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG.

Die Vertragsparteien haben mit der Regelung des Art. 14 ARB 1/80 eine eigenständige Beschränkung der Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen geschaffen. Dass man bisher die Auslegung der dort geregelten Beschränkungen an die Beschränkungen der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern angelehnt hat, wurde u.a. mit der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und von Art. 39 EG und mit dem Ziel der Assoziationsvereinbarung begründet. Mit der RL 2004/38/EG ist die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger aber weiter ausgestaltet und konkretisiert worden. Würde man auch dies auf assoziationsberechtigte türkische Staatsbürger übertragen, dann käme der Bestimmung des Art. 14 ARB 1/80 die Wirkung einer sog. dynamischen Verweisung zu. Mit dem Wortlaut des Art. 14 ARB 1/80 (Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind) und der Intention der Vertragsparteien wäre eine so weite Einschränkung der Rechte der Vertragsparteien (zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit) aber kaum zu vereinbaren. Deshalb hat das Regierungspräsidium im Ergebnis zu Recht eine Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG auf den Kläger verneint.