VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2007 - 4 K 840/07.A - asyl.net: M11340
https://www.asyl.net/rsdb/M11340
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Inhaftierung, Strafverfahren, Folter, Verfolgungszusammenhang, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Strafurteil, Haftbefehl, Politmalus, Justizirrtum, Desertion, Wehrdienstentziehung, Wehrdienst, Situation bei Rückkehr, abgelehnte Asylbewerber, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention, Unterzeichnerstaat
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter und Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), Ziff. 1 und 2 des Bescheides.

1. Sowohl für einen Asylanspruch nach Art. 16 a Abs. 1 GG als auch für das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG gilt folgendes:

2. Bei dem Kläger ist der gewöhnliche Prognosemaßstab anzuwenden, denn er hat sein Heimatland Türkei im Juli 2003 nicht auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen.

2.1. Allerdings geht der Einzelrichter davon aus, daß der Kläger in der Türkei politischer Verfolgung ausgesetzt war.

2.1.1. Das von dem Kläger geschilderte individuelle Schicksal ist zur Überzeugung des Einzelrichters glaubhaft.

Der Kläger befand sich zwischen dem 18. Mai 1995 und dem 20. Mai 1999 in Untersuchungshaft. Noch im Jahre 1995 wurde gegen ihn Anklage beim 5. Staatssicherheitsgericht Istanbul erhoben. Ihm wurden eine Betätigung für die DHKP-C und Beteiligung an Anschlägen mit Molotowcocktails zur Last gelegt. Diese Vorwürfe waren durch Geständnisse belegt, die der Kläger im Mai 1995 unter Folter unterschrieben hatte.

2.1.2. Ausgehend von diesem Sachverhalt stellt sich die in der Untersuchungshaft erlittene Folter als politische Verfolgung dar. Dabei kann dahinstehen, ob die Sicherheitskräfte die Mißhandlungen einschließlich der Folter als Mittel der Strafverfolgung einsetzten. Zwar gewährt das Asylgrundrecht keinen Schutz vor (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter haben. Dabei kann jedoch insbesondere die Anwendung von Folter als schärfste Form der Ausgrenzung aus der staatlichen Friedensordnung ein Indiz für die asylerhebliche Zielrichtung der staatlichen Maßnahme sein (vgl. BVerfG, Beschluß vom 27. April 2004 - 2 BvR 1318/03 -, NVwZ-RR 2004, 613).

Dieses Indiz wird hier durch die Verbindung mit dem von dem Kläger geltend gemachten politischen Engagement und den nach seinem Vortrag bestehenden zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit den Ereignissen des 12. März 1995 noch bestärkt. Bei einer Gesamtschau dieser Umstände ist von einer politischen Gerichtetheit der Mißhandlungen auszugehen.

2.2. Gleichwohl ist der Kläger nicht auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist.

2.2.1. Die Annahme, der Asylbewerber sei auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist, setzt grundsätzlich den Kausalzusammenhang Verfolgung – Flucht – Asyl voraus.

Die Untersuchungshaft, während der er mißhandelt worden ist, war seit dem 20. Mai 1999 abgeschlossen. In den dazwischenliegenden fast vier Jahren war der Kläger keiner politischen Verfolgung mehr ausgesetzt.

2.2.3. Eine Fortsetzung des Verfolgungsgeschehens lag auch nicht in der Verurteilung im Jahre 2002 und dem mit ihr einhergehenden Haftbefehl. Sie sind nicht als politische Verfolgung anzusehen.

Darauf, ob der Kläger die ihm zur Last gelegten Taten wirklich verübt hat, kommt es für sich genommen nicht an. Denn wenn das Gericht diese Handlungen irrtümlich zugrundegelegt hätte, würde sich dies zwar als Justizirrtum, nicht aber zugleich als politische Verfolgung darstellen. Auch in diesem Fall war das Gericht von der legitimen Motivation geleitet, einen – dann nur vermeintlichen – Straftäter und Terroristen einer gerechten Bestrafung zuzuführen (vgl. in diesem Sinne bereits Urteil der Kammer vom 19. Januar 2006 - 4 K 1407/03.A -).

Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß das Gerichtsverfahren nach dem Vortrag des Klägers maßgeblich durch die von ihm unter Folter gemachten Aussagen bestimmt wurde. Folter und Gerichtsverfahren stellen sich nicht als eine Einheit dar mit der dann in Betracht zu ziehenden Folge, daß sich das gerichtliche Verfahren als Fortsetzung der politischen Verfolgung darstellen würde. So könnte es sich allenfalls bei einem kollusiven Zusammenwirken von Sicherheitskräften und Gericht verhalten, für das aber hier keine Anhaltspunkte bestehen (s. noch unten 2.2.4.). Vielmehr gehörte es gerade zu den Aufgaben des Gerichts, die Verwertbarkeit der Geständnisse zu prüfen. Soweit das Gericht dieser Aufgabe nicht in vollem Umfang gerecht geworden sein sollte, handelte es sich nicht erneut um politische Verfolgung, sondern um einen Mangel des Strafverfahrens, der im Herkunftsland durch Einlegung von Rechtsmitteln zu korrigieren ist. Dagegen kann es nicht Aufgabe des Asylverfahrens sein, das Strafverfahren mit den hier nur erreichbaren schwächeren Erkenntnisquellen gleichsam zu wiederholen.

2.2.4. Geht der Staat gegen kriminelles Unrecht vor, kann allerdings gleichwohl eine politische Verfolgung zu bejahen sein, wenn der Asylsuchende eine Behandlung erleidet, die härter ist als die sonst zur Verfolgung ähnlicher – nicht politischer – Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat übliche ("Politmalus") (vgl. die schon zitierten Beschlüsse des BVerfG vom 10. Juli 1989 und vom 20. Dezember 1989, a.a.O.).

Ein "Politmalus" kann schließlich auch nicht in dem von dem Staatssicherheitsgericht gefundenen Strafmaß gesehen werden. Eine Verurteilung zu 17? Jahren Freiheitsstrafe wegen mit Molotowcocktails verübter Anschläge sowie weiteren 12? Jahren schwerer Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (vgl. die Übersetzung Verwaltungsvorgänge Bl. 45 f.) mag hart erscheinen, hält sich aber noch im Rahmen des rechtsstaatlich Vertretbaren. Auch insoweit muß die Berechtigung der Vorwürfe dahinstehen.

3. Bei Anwendung des gewöhnlichen Prognosemaßstabes droht dem Kläger bei Rückkehr in die Türkei keine Verfolgung.

3.1. Allerdings muß er damit rechnen, festgenommen und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Das nach Aufhebung des Urteils vom 17. September 2002 durchzuführende neue Gerichtsverfahren unter anderem gegen den Kläger läuft bereits; es haben nach den vorliegenden Auskünften des Auswärtigen Amtes etliche Termine stattgefunden, und der bestehende Haftbefehl gegen den Kläger ist ausdrücklich aufrechterhalten worden. Diesem Gerichtsverfahren wird sich der Kläger aber stellen müssen. Wie soeben ausgeführt, stellt es nach seinem bisherigen Verlauf keine politische Verfolgung dar. Es kann auch nicht unterstellt werden, daß das Strafgericht in Zukunft gegen den Kläger in einer Weise vorgehen wird, die eine asylerhebliche Beeinträchtigung seiner Rechte bedeuten würde.

Die strafprozessuale Rechtslage in der Türkei, aber auch die Praxis haben sich in jüngster Zeit zum Besseren gewendet. Bei allen Mängeln, die der türkischen Justiz noch anhaften mögen, sind Bestrebungen unverkennbar, rechtsstaatliches Handeln und die Abkehr von Willkür durchzusetzen. Der Kläger wird von diesen Verbesserungen der strafrechtlichen Praxis profitieren und einen Strafprozeß erhalten, der jedenfalls den Mindeststandards eines fairen Verfahren genügt (vgl. mit dieser Erwartung bereits Urteil der Kammer vom 7. August 2006 - 4 K 1752/06.A - unter Bezugnahme auf den Lagebericht des Auswärtiges Amtes vom 11. November 2005 (Stand: November 2005); vgl. jetzt auch den Lagebericht vom 11. Januar 2007 (Stand: Dezember 2006), S. 27 ff., insb. 29 f.).

3.2. Der Kläger hat auch keine politische Verfolgung wegen seiner Desertierung vom Wehrdienst zu befürchten. Kurden droht im Allgemeinen weder bei Erfüllung der Wehrpflicht noch im Zusammenhang mit einer etwaigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht politische Verfolgung in der Türkei (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 74 ff.).

4. Es bestehen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2–7 AufenthG (Ziff. 3 des Bescheides).

4.1. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Türkei keine Folter (§ 60 Abs. 2 AufenthG)

Im Falle der Abschiebung ist die Gefahr einer Mißhandlung bei der Rückkehr in die Türkei auf Grund von vor der Ausreise nach Deutschland geschehener wirklicher oder vermeintlicher Straftaten angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre äußerst unwahrscheinlich. Seit Jahren ist kein Fall mehr bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder mißhandelt wurde (vgl. den Lagebericht des Auswärtiges Amtes vom 11. Januar 2007 (Stand: Dezember 2006), S. 47; Kaya, Gutachten an das VG Sigmaringen vom 8. August 2005, S. 7; Taylan, Gutachten an das VG Sigmaringen vom 21. Juli 2005).

Der Kläger wird auf der Grundlage des gegen ihn ergangenen Haftbefehls bei der Rückkehr oder Rückführung unmittelbar in türkische Untersuchungshaft genommen werden. Dadurch wird die Gefahr von Mißhandlungen zusätzlich unwahrscheinlich.

4.2. Dem Kläger droht in der Türkei nicht die Todesstrafe (§ 60 Abs. 3 AufenthG).

4.3. Die Abschiebung verstößt nicht gegen die Menschenrechtskonvention (§ 60 Abs. 5 AufenthG). Die Türkei ist Mitglied des Europarates und Unterzeichner der EMRK. Der Kläger muß sich darauf verweisen lassen, seine Rechte gegenüber möglichen Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus wahrzunehmen. Ihm drohen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwere und irreparable Nachteile, gegen die ein Rechtsschutz von der Türkei aus zu spät käme.