VG Minden

Merkliste
Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 13.06.2007 - 4 K 3804/06.A - asyl.net: M11359
https://www.asyl.net/rsdb/M11359
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Widerruf, Wehrdienst, Zivildienst, Tschetschenen, Tschetschenien, interne Fluchtalternative, Registrierung, Freizügigkeit, Inlandspass, Wohnraum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die im Bescheid vom 20.02.2002 zu Nr. 1 ausgesprochene Aussetzung der Abschiebung gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG zu Recht widerrufen, da die Voraussetzungen für einen solchen Abschiebungsschutz nicht mehr vorliegen.

In Frage kommt im Fall des Klägers allenfalls ein Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, für den Voraussetzung ist, dass in der Russischen Föderation für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Solche Gefahren für den Kläger hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jedoch zu Recht verneint. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Russische Föderation zum Wehrdienst herangezogen wird, da jeweils nur etwa 11% eines Jahrgangs einberufen werden. Im Übrigen hat der Kläger nach dem zu Anfang 2004 in Kraft getretenen "Gesetz über den alternativen Zivildienst" die Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 26.03.2004, S. 14 ff.).

Sollte der Kläger, wie er behauptet, aber durch Personalpapiere nicht belegt hat, aus Tschetschenien stammen und dort von den allgemeinen und schweren Beeinträchtigungen der Bevölkerung durch den zweiten Tschetschenien-Krieg betroffen gewesen sein, besteht gleichwohl keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass ihm im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben droht. Zwar ist in den von russischen Truppen kontrollierten Gebieten des nördlichen Kaukasus (Tschetschenien, Dagestan) eine hinreichende Sicherheit der Zivilbevölkerung nicht gegeben. In anderen Gebieten der Russischen Föderation findet aber eine unmittelbare oder mittelbare staatliche Verfolgung bestimmter Personen (Gruppen) wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung nicht (mehr) statt.

Art. 27 der russischen Verfassung garantiert jedem, der sich legal auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhält, Freizügigkeit und die freie Wahl des Wohnortes. Dieses Recht ist in der Praxis allenfalls dadurch eingeschränkt, dass eine Pflicht zur Registrierung bei der Wohnsitznahme besteht. Registrierungen sind mit den früher bei Wohnsitznahmen erforderlichen Erlaubnissen nicht vergleichbar; sie können jedoch in den Großstädten wie Moskau und St. Petersburg recht teuer sein und stellen daher de facto für viele Flüchtlinge ein Zuzugshindernis dar. Dennoch halten sich selbst in Moskau Zehntausende von Flüchtlingen kaukasischer Herkunft (u.a. Tschetschenen) auf, und zwar illegal ohne Registrierung. Dies ist wegen der nur eingeschränkten Überwachungsmöglichkeiten in der Stadt Moskau nicht sonderlich schwierig; ferner lassen sich Probleme mit den Sicherheitsbehörden durch Zahlung von Bestechungsgeldern üblicherweise vermeiden. Das Institut der "Propiska" (Zuzugsgenehmigung) ist abgeschafft (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27.08.1998 an das VG Weimar).

Außerhalb der großen Ballungsgebiete Moskau und St. Petersburg ist es für Flüchtlinge einfacher, Wohnraum zu erhalten (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23.11.2000 an das VG Schleswig).

Die Sicherung der materiellen Existenz ist wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage in der Russischen Föderation zwar mit Schwierigkeiten verbunden, das Vorhandensein großer Gruppen von Kaukasiern in Moskau und in der Wolgaregion zeigt aber, dass für Kaukasier auch außerhalb ihrer engeren Heimat in der Russischen Föderation die Möglichkeit besteht, sich mit und ohne Registrierung eine materielle Lebensgrundlage zu schaffen.

Im Übrigen besteht für den Kläger aber auch die Möglichkeit der Registrierung.