VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 11.06.2007 - 2 K 1093/06.A - asyl.net: M11369
https://www.asyl.net/rsdb/M11369
Leitsatz:
Schlagwörter: Nigeria, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depressive Störung, Angststörung, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, Kleinkinder, Versorgungslage, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15
Auszüge:

Die Klägerin hat nach der im Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes – AsylVfG –) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach dem nunmehr anwendbaren § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (zuvor: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) hinsichtlich Nigeria.

Danach kann von der Abschiebung abgesehen werden, wenn für den Ausländer im Zielstaat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Bei der Anwendung und Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG sind seit Ablauf der Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 die Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und des Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU L 304 vom 30. September 2004, S. 12; – RL 2004/83/EG –) – sog. Qualifikationsrichtlinie – zu beachten (vgl. auch Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 18. Dezember 2006 - 1 B 53/06 -, juris).

Bei der sog. subsidiären Schutzgewährung sind demnach Art. 15 RL 2004/83/EG – im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG: § 15 lit. c RL 2004/83/EG – sowie Art. 4 Abs. 4, 5 Abs. 1 und 2 und Art. 68 zu berücksichtigen. Allerdings erfasst Art. 15 lit. c RL 2004/83/EG nicht alle Gefährdungstatbestände des Art. 60 Abs. 7 AufenthG, da er auf den Schutz der Zivilbevölkerung im Rahmen des dort näher bezeichneten bewaffneten Konfliktes beschränkt ist. Soweit § 60 Abs. 7 AufenthG, der ohne Berücksichtigung eines Anlasses oder Hintergrundes, allein auf eine drohende Beeinträchtigung der aufgeführten Rechtsgüter abstellt, eine Schutzgewährung aus anderen als den in Art. 15 lit. c RL 2004/83/EG genannten Gründen erfasst – etwa krankheitsbedingte Gründe oder eine wirtschaftliche Notlage im Heimatland –, findet die Qualifikationsrichtlinie keine Berücksichtigung (vgl. auch Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 21. März 2007 - 20 A 5164/04.A -, juris und Hessischer VGH, Urteil vom 9. November 2006 3 UE 3238/03.A, juris).

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind für die Person der Klägerin auf Grund ihrer bestehenden Erkrankung unter Berücksichtigung der im Zielstaat bestehenden Situation für alleinstehenden Frauen mit Kleinkindern gegeben.

Danach liegt zwar derzeit bei der Klägerin kein voll ausgeprägtes Beschwerdebild einer Posttraumatischen Belastungsstörung vor, wie sie noch von Dr. H. diagnostiziert worden ist. Allerdings leidet die Klägerin derzeit noch immer an einer gemischten Depressiven Störung und Angststörung mit einer Teilsymptomatik einer Posttraumatischen Belastungsstörung in mittelschwerer Ausprägung.

Bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der von dem Gutachter prognostizierten wesentlichen Verschlechterung der Krankheitssymptome ist schließlich zu berücksichtigen, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Nigeria nicht nur den Wegfall der im Bundesgebiet bisher aufgebauten äußeren stabilen Umstände kompensieren müsste, sondern zusätzlich noch eine für sie in ihrem Heimatland bestehende, sehr schwierige und mit erheblichen Belastungen verbundene Situation aus eigener Kraft bewältigen müsste. Die Klägerin wäre im Falle einer Rückkehr als alleinstehende Frau und Mutter zweier Kleinkinder, mit lediglich geringer Schul- bzw. Berufsausbildung und ohne familiäre Unterstützung gezwungen, für sich und ihre Kinder eigenständig eine wirtschaftliche Existenz in Nigeria aufbauen. Nach der derzeitigen Erkenntnislage ist die Situation alleinstehender Frauen mit Kleinkindern in Nigeria jedoch besonders schwierig. Sie finden meist nur schwer eine Unterkunft und eine berufliche Tätigkeit in Nigeria; dies umso weniger, je geringer die Schul- bzw. Berufsausbildung ist. Zwar ist es auch für den Personenkreis der alleinstehende Frauen mit Kleinkindern nicht unmöglich bzw. ausgeschlossen, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen, so etwa im Südwesten des Landes und in den Städten, in denen alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden. So existieren dort z.B. auch Hilfseinrichtungen bei verschiedenen Kirchengemeinden oder Nicht-Regierungs-Organisationen, die verschiedene Hilfestellungen anbieten. Deren Inanspruchnahme ist jedoch abhängig von dem persönlichen Engagement der betroffenen Frau. Auch in Lagos hängt die Situation alleinstehender Frauen mit oder ohne Kleinkind ganz erheblich von deren persönlichen Voraussetzungen und existierenden Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Kirche, etc. ab (vgl. etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. Mai 2006, Ziff. I 5., S. 11 und Ziffer II 1.6, S 27; Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 14. Februar 2005 an das VG Berlin und vom 28. März 2003 an das VG Düsseldorf sowie Auskunft im vorliegenden Verfahren vom 24. November 2006 die auf die Auskunft vom 14. Februar 2005 verweist; Auskunft des Institutes für Afrika-Kunde vom 28. März 2003 an das VG Düsseldorf; Kurzinformation des Bundesamtes vom April 2002 zur Lage der Frauen in Nigeria).