VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 31.05.2007 - 10 A 958/04 - asyl.net: M11378
https://www.asyl.net/rsdb/M11378
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für iranischen Staatsangehörigen wegen drohender Verfolgung wegen Gottesdienstbesuch und Missionierung.

 

Schlagwörter: Iran, Christen, Apostasie, Konversion, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Diskriminierung, Verfolgungshandlung, Missionierung, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. b
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für iranischen Staatsangehörigen wegen drohender Verfolgung wegen Gottesdienstbesuch und Missionierung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Im Fall der Klägerin liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor.

Das Gericht hat an der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit der Konversion der Klägerin zum Christentum keinen Zweifel.

(1) Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin im Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten staatlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sein würde, wenn sie dort ihren christlichen Glauben nach außen erkennbar, insbesondere durch eine regelmäßige Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten, praktizieren würde.

(11) Das Gericht geht dabei davon aus, dass asyl- bzw. abschiebungsrelevante Übergriffe wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion nicht erst dann vorliegen, wenn die Religionsausübung auch im privaten Bereich, also abseits der Öffentlichkeit und in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen im sog. "forum internum", verfolgt wird (vgl. zu diesem bisherigen Verständnis des Schutzes des religiösen Existenzminimums: VG Hamburg, Urteile vom 21.6.2005 - 10 A 213/02 -, 19.7.2005 - 10 A 263/05 -, 17.8.2005 - 10 A 275/03 -, 13.10.2005 - 10 A 182/03 und zuletzt vom 31.8.2006 - 10 A 941/04; OVG Hamburg, Urteile vom 21.10.2005 - 1 Bf 298/01.A m.w.N und 24.3.2006 - 1 Bf 15/98.A -, juris; BVerfG, Beschluss vom 1.7.1987 - 2 BvR 478, 962/86 -, BVerfGE 76, 143; BVerwG, Urteil vom 20.1.2004 - BVerwG 1 C 9.03 -, InfAuslR 2004, 319; OVG Sachsen, Urteil vom 4.5.2005 - A 2 B 524/04.A - m.w.N., juris). Die bisherige Rechtsprechung kann nicht mehr aufrechterhalten werden.

Dies ergibt sich jedenfalls daraus, dass die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 304/12 vom 30.9.2004; im Folgenden: Richtlinie) mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 10.10.2006 unmittelbar geltendes Recht und damit von den Gerichten bei der Anwendung und Auslegung des Rechts zu beachten ist. Bei der Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist hier Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie zu berücksichtigen. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere "die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind". Die Richtlinie legt dabei ein weites Verständnis der Religion zugrunde. Darunter fällt insbesondere jede theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugung.

Danach kann die bereits erwähnte Rechtsprechung zum religiösen Existenzminimum jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten werden (vgl. auch die Hinweise des Bundesministeriums des Innern vom 13.10.2006 zur Anwendung der Richtlinie, S. 9). Für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG im Lichte von Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie bedeutet dies, dass asylrelevante Eingriffe bereits dann anzunehmen sind, wenn die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, wie den für die christliche Religion allgemein üblichen und vorgesehenen öffentlich zugänglichen Gottesdiensten in Gotteshäusern oder unter freiem Himmel, Verfolgung hervorruft (ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.6.2006 - A 2 S 571/05 -, AuAS 2006, 175; VG Potsdam, Urteil vom 5.3.2007 - 1 K 2959/96.A -, ASYLMAGAZIN 2007, 22; VG Düsseldorf, Urteil vom 20.2.2007 - 22 K 3453/05.A -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 8.2.2007 - 9 K 2279/06.A -, juris; VG Ansbach, Urteil vom 23.1.2007 - AN 3 K 06.30870 -, juris; VG Gießen, Urteil vom 18.1.2007 - 5 E 3970/06.A -, AuAS 2007, 55, 56; VG Lüneburg, Urteil vom 15.1.2007 - 1 A 115/04 -, juris; VG Meiningen, Urteil vom 10.1.2007 - 5 K 20256/03.Me -, juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.10.2006 - A 6 K 10463/04 -, AuAS 2007, 57; VG Düsseldorf, Urteil vom 15.8.2006 - 2 K 2682/06.A -, juris; VG Bayreuth, Urteil vom 27.4.2006 - B 3 K 06.30073 -, juris). Staatliche Beschränkungen und Verbote in die Öffentlichkeit hineinwirkender Formen religiöser Betätigung, die nach der früheren Rechtsprechung selbst dann noch keine asylrechtlich erhebliche Verfolgung darstellten, wenn sie nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft zum unverzichtbaren Inhalt der Religionsausübung gehören, sind nunmehr vom Religionsbegriff umfasst.

Die gegenteilige Ansicht einiger Gerichte, dass weiterhin nur Verletzungen des "forum internum" Verfolgungshandlungen darstellen (VG Arnsberg, Urteil vom 26.1.2007 - 12 K 1938/06.A -, juris; vgl. VG München, Urteil vom 22.1.2007 - M 9 K 06.51034 -, juris), findet in der Richtlinie keine Stütze. Es ist nichts dafür erkennbar, dass die Richtlinie zwar den Begriff der Religion umfassend definiert, die Beeinträchtigung jedoch nur eines Ausschnitts (Kerngehalts) davon als verfolgungsrelevant ansieht. Die abweichende Auffassung vermengt die Begriffe des Verfolgungsgrundes nach Art. 10 und der Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 der Richtlinie und beachtet nicht, dass die Verfolgungsgründe nach Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie über das bisherige religiöse Existenzminimum hinausgehen. Ob die jeweiligen religiösen Betätigungen nach Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie dann auch eine Verfolgungshandlung nach sich ziehen, ist eine insoweit gesondert zu betrachtende Frage, als die Reichweite der relevanten Verfolgungsgründe hiervon nicht beeinflusst werden kann. Im Übrigen bliebe bei diesem Verständnis der Richtlinie auch kein Raum für eine Flüchtlingsanerkennung wegen des Verfolgungsgrundes der öffentlichen Religionsausübung.

Allerdings ist auch nicht jede Diskriminierung in dem so verstandenen religiösen Schutzbereich gleichzeitig Verfolgung wegen der Religion, sondern sie muss sich als ernsthafter Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen. Dies ist erst dann der Fall, wenn die auf eine häuslich-private oder öffentliche Religionsausübung gerichtete Maßnahme zugleich auch mit einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Betroffenen verbunden ist oder zu einer entsprechenden "Ausgrenzung" führt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.6.2006, a.a.O.). Dementsprechend formuliert Art. 9 der Richtlinie, welche Handlungen Verfolgung im Sinne des Art. 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen. Nach Art. 9 Abs. 2 b) der Richtlinie können auch gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, Verfolgung sein (vgl. VG Meiningen, Urteil vom 10.1.2007, a.a.O.).

(22) Hiervon ausgehend hat die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in den Iran bei der öffentlichen Bekundung ihres christlichen Glaubens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit mindestens administrativen freiheitsbeschränkenden Repressalien zu rechnen.

Aus der aktuellen Auskunftslage ergibt sich hierzu, dass konvertierte Muslime in jüngster Zeit keine öffentlichen christlichen Gottesdienste besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Dies wird durch die Angaben im Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Christen und Christinnen im Iran vom 18.10.2005 bestätigt. Danach werden die Mitglieder evangelikaler Gemeinden gezwungen, Mitgliedsausweise bei sich zu tragen. Zusammenkünfte sind nur sonntags erlaubt und teilweise werden die Anwesenden von Sicherheitskräften überprüft. Die Kirchenführer sollen vor jeder Aufnahme von Gläubigen das Informationsministerium und die islamische Führung benachrichtigen. Kirchenoffizielle müssen Erklärungen unterschreiben, dass ihre Kirchen weder Muslime bekehren noch diesen Zugang in die Gottesdienste gewähren. Konvertiten werden, sobald der Übertritt Behörden bekannt wird, zum Informationsministerium zitiert, wo sie scharf verwarnt werden. Durch diese Maßnahmen soll muslimischen Iranern der Zugang zu den evangelikalen Gruppierungen versperrt werden. Sollten Konvertiten jedoch weiter in der Öffentlichkeit auffallen, so durch Besuche von Gottesdiensten, Missionsaktivitäten oder ähnlichem, können sie mit Hilfe konstruierter Vorwürfe wie Spionage, Aktivitäten illegaler Gruppen oder anderen Gründen vor Gericht gestellt werden.

Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass sich die geschilderte Situation für Christen seit der Wahl Mahmoud Ahmadinejads im Juni 2005 und dem Einfluss des "radikalkonservativen Lagers" weiter verschlechtert und Verfolgungsmaßnahmen den Druck nochmals erhöht haben.

Aufgrund der Willkür des iranischen Regimes ist nach der Auffassung des Gerichts bei einer offenen Darstellung des Glaubensübertritts sowie im Falle einer nicht verheimlichten Religionsausübung jedenfalls in einer beträchtlichen Anzahl der Fälle mit der Einleitung von asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass im Iran Folter bei Verhören, in der Untersuchungs- und in regulärer Haft vorkommt. Es gibt im Iran auch weiterhin willkürliche Festnahmen sowie lang andauernde Haft ohne Anklage oder Urteil (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21.9.2006). Aufgrund der bereits genannten Verschärfungen (Mitgliedsausweise bei evangelikalen Kirchen sowie teilweise Überprüfung Anwesender durch Sicherheitskräfte bei Gottesdiensten, Einschaltung des Informationsministeriums) sind weitere umfangreiche Kontrollen von evangelisch-freikirchlichen Gottesdiensten und staatliche Repressionen gegen Teilnehmer dieser Gottesdienste gerade wegen der Ausrichtung des iranischen Regimes an den Werten der Islamischen Revolution und islamischen Prinzipien (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21.9.2006, S. 5), nach denen Apostasie mit dem Tod zu bestrafen ist, unter der Regierung Ahmadinejad wieder zu erwarten. Da die missionierenden protestantischen Kirchen in jüngster Zeit vermehrt Ziel staatlicher Repressalien waren, besteht neben der verstärkten Gefahr von Kontrollen auch die Gefahr von Schließungen einzelner Freikirchen. Soweit angesichts der Entwicklungen nicht auszuschließen ist, dass die Freikirchen ihre Arbeit im Untergrund fortführen, kann die Klägerin hierauf aufgrund des Schutzes, den die Richtlinie auch für die Glaubensausübung in der Öffentlichkeit verleiht, nicht verwiesen werden. Die christliche Religionszugehörigkeit zu verschweigen, um Festnahmen zu entgehen, ist nicht zumutbar (so auch VG Bayreuth, Urteil vom 27.4.2006, a.a.O.). Zudem dürfte auch bereits die – auch hier – begründete Furcht vor einer Verfolgung, die dazu führt, dass Apostaten sich in die privaten Hauskreise zurückziehen, angesichts des durchaus auch subjektive Elemente enthaltenden Flüchtlingsbegriffs (vgl. Art. 2 c) der Richtlinie) die Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 1 AufenthG erfüllen (vgl. VG Meiningen, Urteil vom 10.1.2007, a.a.O.).

Es kann auch nicht eingewandt werden, dass die angeführten Referenzfälle lediglich Einzelfälle – soweit es sich in jüngster Zeit überhaupt noch nur um solche handelt – sind. Das Gericht ist der Überzeugung, dass zum Einen nur aus dem Grund "Einzelfälle" angeführt werden, weil andere Fälle lediglich nicht bekannt werden. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die vorliegenden Auskünfte und Berichte die Verfolgungssituation der genannten protestantischen Gemeinden im Iran naturgemäß nur unvollständig wiedergeben. Zum anderen darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die absolute Anzahl der freikirchlichen Bewegungen, die allein zumindest in der Vergangenheit Apostaten Zutritt gewährt haben, so gering ist (vgl. Auskünfte des Deutschen Orient-Instituts vom 1.6.2001 und 6.12.2004), dass bereits relativ wenige Einzelfälle ein bedeutendes Gewicht erlangen. In diesem Zusammenhang erscheinen u. a. die – wenn auch teilweise kurzfristigen – Verhaftungen von 86 Mitgliedern der Assembly of God Church bereits als Anhaltspunkt für eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit.

Angesichts der dargelegten Verfolgungssituation der evangelikalen und freikirchlichen Gruppierungen erscheint die Teilnahme an Gottesdiensten für zum Christentum konvertierte Muslime nicht möglich, ohne dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgungsmaßnahmen erleiden müssten. Das Gericht sieht sich in seiner Auffassung bestätigt durch eine Vielzahl neuerer Gerichtsentscheidungen (VG Düsseldorf, Urteil vom 20.2.2007, a.a.O.; VG Ansbach, Urteil vom 23.1.2007, a.a.O.; VG Meiningen, Urteil vom 10.1.2007, a.a.O.; VG Karlsruhe, Urteil vom 19.10.2006, a.a.O.; VG Düsseldorf, Urteil vom 15.8.2006, a.a.O.; VG Bayreuth, Urteil vom 27.4.2006, a.a.O.; a.A. VG München, Urteil vom 22.1.2007, a.a.O.; VG Düsseldorf, Urteil vom 8.2.2007, a.a.O.; a.A. auch noch OVG Hamburg, Urteile vom 24.3.2006 und 21.10.2005, a.a.O., hingegen offen gelassen im Beschluss vom 4.5.2007 - 1 Bf 19/07.AZ).

(2) Die Klägerin ist auch deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bei ihrer Rückkehr in den Iran politischer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt, weil sie sich – auch persönlich – aufgrund des biblischen Missionsbefehls verpflichtet sieht, den Glauben auch in ihrem Heimatland aktiv zu verbreiten und die Missionierung im Iran zu einer beachtlichen Gefährdung führt.

Die Klägerin kann sich unter Berücksichtigung der Richtlinie 2004/83/EG nunmehr auch darauf berufen, dass staatliche Repressalien als Folge von öffentlicher, über den häuslich-privaten Bereich hinausgehender Missionstätigkeit als politische Verfolgung zu betrachten sind (a. A. die bisherige Rechtsprechung zum "forum internum", vgl. nur BVerwG, Urteil vom 20.1.2004, a.a.O.).

Der Begriff der Religion im Sinne von Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie umfasst auch das Missionieren als sonstige religiöse Betätigung (ohne weitere Begründung ebenso Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), Teil I, Stand: November 2006, IV.1.3. Rn. 57, S. 9). Die Vorschrift ist so auszulegen, dass auch das Missionieren im öffentlichen Bereich erfasst ist. Gegenteiliges ergibt sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts München (Urteil vom 22.1.2007, a.a.O.) nicht daraus, dass sich der Zusatz "im privaten oder öffentlichen Bereich" in Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie im Normaufbau an die religiösen Riten anschließt und nach Anführung der sonstigen religiösen Betätigungen nicht nochmals wiederholt wird. Allein der mögliche Gedanke, dass die religiösen Riten der Kern einer Religion und für diese unabdingbar sind, so dass sie umfassend und damit auch im öffentlichen Bereich zu schützen sind, während die sonstigen religiösen Betätigungen eventuell weniger schützenswert und daher auch nicht zwingend in der Öffentlichkeit zu gewährleisten sind, rechtfertigt eine entsprechende Einschränkung des Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie nicht.

Dies ergibt eine normsystematische und teleologische Auslegung der Vorschrift. Der Tatbestand der religiösen Riten wird vorweggestellt; dies beinhaltet aber nicht, dass die dort ausdrücklich erwähnte Erstreckung auf den öffentlichen Bereich für den anschließenden allgemeinen Fall der sonstigen religiösen Betätigungen nicht mehr gilt. Die Verwendung des Begriffes "sonstige" Betätigungen – ohne weitere Beschränkungen – lässt vielmehr den Schluss zu, dass es sich bei der religiösen Betätigung um den Oberbegriff handelt, der für den Spezialtatbestand der religiösen Riten – ausdrücklich – näher erläutert wird. Eine Einschränkung des Gehalts des Oberbegriffs durch das Anführen eines Beispiels ist allenfalls ein Ausnahmefall, so dass eine ausdrückliche Regelung erforderlich gewesen wäre, um die Bedeutung der Vorschrift in diesem Sinne zu begrenzen. Weiterhin ergibt sich diese Auslegung normsystematisch auch daraus, dass die im Einklang mit den sonstigen religiösen Betätigungen genannten "Meinungsäußerungen [...] Einzelner", die sich ebenfalls nicht ausdrücklich auf die Ergänzung „im privaten oder öffentlichen Bereich“ beziehen, schon nach ihrem (Wortlaut-) Verständnis nicht auf einen privaten Bereich beschränkt werden können. Denn eine Meinungsäußerung hat den Sinn, geistige Wirkung auf die Umwelt auszuüben, und entfaltet diese Wirkung gerade in der Öffentlichkeit. Aus den Verknüpfungen der Satzteile mit "und" oder "oder" lassen sich insoweit bereits deshalb keine Rückschlüsse ziehen, weil diese Wortwahl in den verschiedenen Amtssprachen nicht eineinheitlich verwendet wird (vgl. die englischsprachige Version, in welcher ausschließlich das Wort "or" ("oder") verwendet wird: Official Journal L 304/12 vom 30.9.2004). Neben dieser systematischen Argumentation sprechen auch Sinn und Zweck der Richtlinie gegen eine entsprechende Einschränkung des Schutzes religiöser Betätigungen, da die Richtlinie ein weites Verständnis der Religion zugrunde legt.

Dies zugrunde gelegt ergibt sich für die Klägerin im Iran die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung aufgrund ihrer dort zu erwartenden Missionierungsaktivitäten.

Zunächst ist das Gericht überzeugt, dass der Missionsauftrag, wie er der christlichen Lehre entnommen werden kann, in gleichem Maße dem religiösen Glauben der Klägerin persönlich entspricht und ihr auch gebietet, im Iran zu missionieren.

Bereits in der früheren Rechtsprechung war anerkannt, dass Christen und Apostaten im Iran nur solange keiner politischen Verfolgung ausgesetzt sind, wie sie den absoluten Machtanspruch der Muslime respektieren und keine Missionierung unter ihnen betreiben, also solange sie nicht auf die Verbreitung der christlichen Religion gerichtet tätig werden. Apostaten droht danach wegen ihres Glaubenswechsels politische Verfolgung bei "über den bloßen Besuch öffentlicher Gottesdienste hinausgehenden, öffentlich wirksamen religiösen Betätigung oder bei missionierender Tätigkeit" (BayVGH, Beschluss vom 2.5.2005 - 14 B 02.30703 -, juris; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.1.2004, a.a.O.; Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 26.2.1999, 1.6.2001 und 28.6.2001).

Auch nach den jüngsten Lageberichten des Auswärtigen Amtes können Mitglieder der religiösen Minderheiten, denen zum Christentum konvertierte Muslime angehören und die selbst offene und aktive Missionierungsarbeit unter Muslimen im Iran betreiben, der Gefahr staatlicher Repressionen ausgesetzt sein. Mögliche Gefahr besteht für alle missionierenden Christen, gleichgültig, ob es sich um konvertierte oder nichtkonvertierte handelt. Staatliche Maßnahmen hätten sich bisher ganz überwiegend gezielt gegen die Kirchenführer und in der Öffentlichkeit besonders Aktive gerichtet, nicht aber gegen einfache Gemeindemitglieder (Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 29.8.2005, 24.3.2006 und 21.9.2006; vgl. insoweit die oben angeführten Referenzfälle). Auch nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.12.2004, das sich auf die Aussagen kirchlicher Würdenträger bezieht, haben (nur) solche Apostaten, die keine Missionierung betreiben, keine staatlichen Repressalien zu befürchten.

Auch soweit weiterhin der – eingeschränkte – Maßstab gelten sollte, dass eine beachtliche Verfolgungsgefahr erst vorliegt, wenn ein zum Christentum übergetretener Moslem bei einer Rückkehr in den Iran eine missionarische Tätigkeit in leitender Position entfalten würde oder sich in der Öffentlichkeit besonders aktiv für die christliche Religion einsetzt, so dass die Aktivität aus Sicht der Mullahs als Angriff auf den Bestand der Islamischen Republik Iran angesehen werden könnte, sind diese Voraussetzungen im Falle der Klägerin gegeben. Die Klägerin hat in Deutschland vielfach Iraner angesprochen, über das Christentum informiert, ihnen christliche Texte überreicht und zum Glaubensübertritt bewegt.

Schließlich ist eine besonders hohe Gefährdung der Klägerin im Falle missionarischer Tätigkeit im Iran – dies gilt ebenso im (hypothetischen) Fall von Gottesdienstbesuchen – auch deshalb anzunehmen, weil davon auszugehen ist, dass ihre Konversion und Aktivitäten in Deutschland den iranischen Behörden u.a. durch die Teilnahme an zahlreichen Gottesdiensten und Bibelstunden in ... sowie dem Seminar für Führungskräfte der "... Christian Church" in ... bekannt geworden sind, da der iranische Geheimdienst Auslandsaktivitäten iranischer Staatsbürger sorgfältig und umfangreich überwacht (vgl. die jüngsten Lageberichte des Auswärtigen Amtes über den Iran). Die Klägerin würde aufgrund dieser Erkenntnisse bei einer Fortsetzung vor allem ihrer öffentlichkeitswirksamen missionarischen Aktivitäten bei den iranischen Sicherheitsbehörden unvermeidlich den Eindruck eines ernsthaften Regimegegners erwecken. Da die Klägerin persisch spricht, liegt der Vorwurf der Missionierung ohnehin besonders nahe.

Bei einer nach der Richtlinie 2004/83/EG geschützten Fortsetzung der aktiven Missionierungstätigkeiten der Klägerin im Iran im Falle ihrer Rückkehr droht ihr nach allem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG.