VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 24.04.2007 - Au 5 K 05.30160 - asyl.net: M11443
https://www.asyl.net/rsdb/M11443
Leitsatz:
Schlagwörter: Israel, Palästina, Palästinenser, Westbank, Westjordanland, palästinensische Autonomiegebiete, Staatenlose, Grenzkontrollen, Einreiseverweigerung, Wiedereinreise, Gruppenverfolgung, Antragstellung als Asylgrund, Auslandsaufenthalt, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Sicherheitslage, Abschiebungsandrohung, Zielstaatsbezeichnung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 59 Abs. 2; AsylVfG § 34; AsylVfG § 38 Abs. 1
Auszüge:

Keine generelle Wiedereinreiseverweigerung für palästinensische Volkszugehörigkeit in die palästinensischen Gebiete; kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Sicherheitslage im Westjordanland; Zielstaatsbestimmung "Israel" bei staatenlosem Palästinenser zwar rechtswidrig, verletzt den Ausländer aber nicht in seinen Rechten.

(Leitsätze der Redaktion)

 

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 AufenthG.

a) Das Gericht konnte aus den Angaben des Klägers bei seiner Bundesamtsanhörung und in der mündlichen Verhandlung nicht die Überzeugung gewinnen, dass er vor seiner Ausreise Ende August 2003 politische Verfolgung erlitten hat bzw. ihm eine solche mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte. Zutreffend hat das Bundesamt insoweit im angegriffenen Bescheid ausgeführt, der Kläger habe sein Heimatland wegen der schlimmen und unsicheren allgemeinen Lage verlassen.

b) Dem Kläger droht auch künftig nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Israel bzw. in das Westjordanland die Gefahr einer politischen Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG.

aa) In der Rechtsprechung ist es anerkannt, dass bei dauerhafter Einreiseverweigerung durch den Heimatstaat eine politische Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer "Aussperrung" oder "Ausgrenzung" vorliegen kann (BVerwG vom 22.02.2005 NVwZ 2005, 1191, 1192; vom 01.08.2002, Az. 1 B 6/02; vom 15.10.1985, Az. 9 C 3/85; VGH BW vom 5.4.2006, Az. A 13 S 302/05; OVG Schleswig vom 18.11.1998, Az. 2 L 9/96; BayVGH vom 01.02.1993, Az. 24 B 90.30632).

Die Westbank, die auch als Westjordanland bezeichnet wird, ist nicht Teil des Staatsgebietes von Israel.

Handelt es sich – wie hier – um Staatenlose, so bedeutet dies nicht, dass politische Verfolgung in einem solchen Fall von vornherein ausscheidet. Es kommt vielmehr darauf an, ob ein Staat einem Staatenlosen, der im Staatsgebiet seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (vgl. § 3 AsylVfG), die Wiedereinreise "aus nichtpolitischen Gründen" verweigert, ob die Verweigerung also auf ein asylerhebliches Merkmal zielt (BVerwG vom 22.02.2005 a.a.O.; vom 15.10.1985 a.a.O). Dabei ist nicht auf die subjektiven Motive des Verfolgenden abzustellen, sondern auf die objektive Gerichtetheit der Maßnahme (BVerwG vom 01.08.2002 a.a.O.). Dass die Staatenlosigkeit des Klägers politische Verfolgung wegen Rückkehrverbots nicht von vornherein ausschließt, ergibt sich auch daraus, dass der Staat Israel das Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem annektiert hat und insofern zu der dort ansässigen palästinensischen Bevölkerung in einer rechtlichen Beziehung steht, die aus asylrechtlicher Sicht – und ebenso aus der Sicht des § 60 Abs. 1 AufenthG – der Beziehung zwischen einem Staat und seinen Bürgern gleichkommt (VGH BW vom 5.4.2006 a.a.O.; OVG Schleswig vom 18.11.1998 a.a.O.). Insofern ist für eine Schlechterstellung solcher (früherer) Einwohner kein Raum.

Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall kann nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, Israel werde den Kläger allein wegen seiner Volkszugehörigkeit endgültig nicht mehr in das Westjordanland oder aber den Gazastreifen einreisen lassen. Die Außengrenzen der besetzten Gebiete – jedenfalls gilt dies noch für dasWestjordanland – sind seit langem der israelischen Verwaltung unterstellt; eine Ein- bzw. Ausreise ohne israelische Kontrolle ist nicht möglich (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 4.3.2002 an das VG Ansbach). Hieran hat sich nach der Kenntnis des Gerichts durch die jüngste Entwicklung (Wahlen in den Palästinensergebieten, aber auch in Israel) nichts geändert. Auch wenn Israel noch immer "viel daran setzt", möglichst viele Palästinenser zum dauerhaften Verlassen der besetzten Gebiete zu veranlassen, kann nach Auskunft des Auswärtige Amt (vom 10.11.2005 an den VGH BW) palästinensischen Volkszugehörigen, die im Bevölkerungsregister verzeichnet sind und über eine palästinensische Personenkennziffer verfügen, durch die zuständigen Passbehörden ein Reisepass ausgestellt werden. Für diese Personen besteht damit ein Rückkehrrecht in die palästinensischen Gebiete. Da der Kläger nach eigenen Angaben im Besitz eines von der palästinensischen Behörde in Jenin ausgestellten Personalausweises gewesen und insofern im Bevölkerungsregister aufgenommen ist, trifft dies auf den Kläger zu, auch wenn er momentan nicht im Besitz eines Reisepasses ist. Was die Ausstellung eines Passes für den Kläger angeht, so ist die palästinensische Autonomiebehörde allerdings dazu (unter Mitwirkung israelischer Behörden) in der Lage. Selbst wenn damit davon auszugehen ist, dass jedenfalls zur Zeit ohne den Besitz entsprechender Passdokumente eine Überwindung der von Israel kontrollierten Außengrenzen und damit eine Rückkehr in das Westjordanland nur schwer möglich ist – zumal die Aufnahme von Verhandlungen zwischen Israel und der eine palästinensische "Regierung" bildenden Hamas noch ungewiss ist – ist es höchst fraglich, ob bereits jetzt von einer auf Dauer bestehenden "Aussperrung" des Klägers ausgegangen werden kann. Die Praxis des Staates Israel scheint insofern seit jeher "flexibel" zu sein (BayVGH vom 01.02.1993 a.a.O.; VGH BW vom 5.4.2006 a. a.O.). Selbst wenn man hier aber im Hinblick auf die Prognosekriterien im Asylrecht über eine bloße "Momentaufnahme" hinaus auf die Prognose für "absehbare Zeit" abstellt (BVerwG vom 27.04.1982, NVwZ 1983, 160, 161; vom 31.03.1981, Az. 9 C 237/80), würde es an der für die Verfolgungsrelevanz der Einreiseverweigerung notwendigen politischen "Gerichtetheit" (BVerwG vom 01.08.2002 a.a.O.) fehlen, da Palästinensern, die im Besitz entsprechender Identitätspapiere sind, ohne weiteres die Einreise gestattet wird. Eine Einreiseverweigerung knüpft also nicht an die Volkszugehörigkeit, sondern an die ungeklärte Identität bzw. Herkunft des Betreffenden an – eine bei vielen Staaten übliche und jedenfalls nicht von vornherein illegitime Praxis (VGH BW vom 5.4.2006 a.a.O.).

bb) Dem Kläger droht auch keine gruppengerichtete Verfolgung wegen seiner palästinensischen Volkszugehörigkeit.

Unter Anwendung dieser Grundsätze und in Übereinstimmung mit der herrschenden Rechtsprechung kann sich der Kläger nicht auf eine Gruppenverfolgung von Palästinensern im Gebiet des Westjordanlandes berufen (VGH BW vom 5.4.2006 a..O.; VG des Saarlandes vom 24.11.2006, Az. 5 K 97/05.A; VG Arnsberg vom 21.11.2005, Az. 13 K 3577/04.A; VG Aachen vom 07.09.2004, Az. 3 K 1655/04.A; VG Düsseldorf vom 7.2.2003, Az. 21 K 3794/00).

cc) Die Gefahr einer politischen Verfolgung im Falle seiner Rückkehr ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland ein Asylverfahren durchgeführt und sich lange Zeit im Ausland aufgehalten hat.

2. Die Voraussetzungen für einen Schutz nach § 60 Abs. 2–7 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben.

§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG schützt zwar – wie § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zuvor – auch vor solchen Gefahren, die nicht durch den Abschiebezielstaat dort drohen (BVerwG vom 17.10.1995, DVBl 1996, 612, vom 15.4.1997 - 9 C 38.96 - und vom 2.9.1997 - 9 C 40.96). Erforderlich ist aber, dass für den betreffenden Ausländer bei Rückkehr in seinen Heimatstaat eine (sonstige) erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Es muss eine individuelle, sich gerade in seiner Person konkretisierende und beachtlich wahrscheinlich einstellende Gefahr sein (BVerwG vom 17.10.1995, BayVBl 1996, 216). Auf eine derartige Gefährdung weist beim Kläger hinreichend schlüssig nichts hin. Insoweit kann sinngemäß auf die Ausführungen oben verwiesen werden.

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG werden allerdings Gefahren in dem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts führt der zitierte Satz 2 grundsätzlich zu einer Sperrwirkung bezüglich der Anwendung des Satzes 1 auf derartige Fälle. Eine solche Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60 a AufenthG liegt für Israel und die autonomen Palästinensergebiete nicht vor.

Dieser Grundsatz der Sperrwirkung des Satzes 2 erfährt allerdings eine Ausnahme, wenn auf der Basis von Satz 1 in Verbindung mit den Art. 1 und 2 GG bei einer entsprechenden Gefahrendichte Abschiebungsschutz zwingend geboten ist. Wenn dem einzelnen Ausländer keine Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 5 oder 7 Satz 1 AufenthG zustehen, er aber gleichwohl ohne Verletzung höherrangigen Verfassungsrechts nicht abgeschoben werden darf, ist bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG im Einzelfall Schutz vor der Durchführung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.

Weder die Feststellung des Bestehens eines Bürgerkriegs noch eines Untergrundkriegs begründen automatisch eine Extremgefahr.

Nach den aktuellen Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes (Stand: 23.03.2007) ist die Sicherheitslage in Israel und in den Palästinensischen Gebieten weiterhin sehr angespannt.

Die Situation im Westjordanland ist ersichtlich weniger gravierend als die im Gazastreifen, vor dessen Betreten (vom Auswärtigen Amt) nicht "dringend gewarnt", sondern von dem "nur" "grundsätzlich abgeraten" wird. Diese unterschiedliche Bezeichnung ist Ausdruck einer deutlich geringer eingeschätzten Gefahrenlage. Darüber hinaus werden die vor Ort befindlichen Personen nicht etwa gewarnt oder gar zur Ausreise aufgefordert, sondern allein zu erhöhter Vorsicht aufgerufen. Das OVG des Saarlandes hat im Übrigen zur Bedeutung der Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes im Urteil vom 29.09.2006 (Az. 3 R 6/06) ausgeführt, dass diese Reisewarnungen für Touristen und Geschäftsreisende keinen Ansatz für einen Wertungswiderspruch

bei der Verneinung einer Extremgefahr böten, weil die Warnungen eine unverbindliche Information darstellen und keine verbindliche Regelung im Sinne des Schutzes der Menschenwürde enthalten und ein Informationsbedürfnis schon wesentlich früher besteht als erst bei einer Situation, in der Reisende sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Da die Schwelle für eine Reisewarnung wesentlich niedriger sei, gebe sie keinen hinreichenden Anhaltspunkt für eine Extremgefahr im Verständnis von § 60 Abs. 7 AufenthG.

3. Die Abschiebungsandrohung mit dem festgesetzten Zielstaat (unter Bestimmung einer Ausreisefrist von 1 Monat) findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 34, 38 Abs. 1 AsylVfG, 59 AufenthG. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist zwar insofern rechtswidrig, als sie Israel als primären Zielstaat der Abschiebung bezeichnet; sie verletzt den Kläger aber nicht in seinen Rechten.

Da der Kläger angegeben hat, Palästinenser zu sein und bis zu seiner Ausreise im Besitz eines von der palästinensischen Behörde in Jenin ausgestellten Personalausweises gewesen zu sein, spricht derzeit nichts für die Annahme, der Kläger könnte israelischer Staatsangehöriger sein. Unter diesen Umständen ist die Zielstaatsbestimmung Israel in der Abschiebungsandrohung fehlerhaft, weil die Westbank nicht Teil des Staatsgebiets Israels ist, sondern unter palästinensischer Selbstverwaltung steht. Da es aber völkerrechtlich derzeit keinen Staat Palästina und damit auch keine palästinensische Staatsangehörigkeit gibt, und auch das Westjordanland nicht als eigenstaatliches Gebilde angesehen werden kann, gibt es – mit Ausnahme von Israel, dessen Staatsangehörigkeit der Kläger indes voraussichtlich nicht besitzt – derzeit keinen "Staat" im Verständnis von § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, in den der Kläger (vorrangig) abgeschoben werden kann.

Diese (an der fehlenden Staatseigenschaft der Palästinensischen Autonomiegebiete scheiternde und damit) fehlerhafte Zielstaatsbezeichnung verletzt den Kläger allerdings nicht im Verständnis von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in seinen Rechten (Nds.OVG vom 21.04.2004 a.a.O.). Denn bei der Sollvorschrift des § 59 Abs. 2 AufenthG (früher: § 50 Abs. 2 AuslG 1990) handelt es sich lediglich um eine Vorgabe für das Handlungsprogramm der Behörde im Sinne einer Ordnungsvorschrift. Vor allem die Regelung in § 59 Abs. 3 AufenthG (früher: § 50 Abs. 3 AuslG 1990) zeigt, dass die Abschiebungsandrohung als solche selbst dann bestehen bleibt, wenn in ihr (rechtswidrigerweise) ein Zielstaat benannt ist, für den ein zwingendes Abschiebungsverbot besteht. Mit dieser gesetzlichen Wertung stünde es schwerlich in Einklang, wenn aus dem Fehlen bzw. der Rechtswidrigkeit einer nach § 59 Abs. 2 Halbsatz 1 AufenthG (früher: § 50 Abs. 2 Halbs. 1 AuslG 1990) gebotenen Zielstaatsbezeichnung auf die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung insgesamt zu schließen. Die Rechte des betroffenen Ausländers werden in einem solchen Falle ausreichend dadurch gewahrt, dass ihm vor einer Abschiebung der konkrete Zielstaat bekannt gegeben werden muss, damit er rechtzeitig gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann (VG des Saarlandes vom 24.11.2006 a.a.O.).