VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.08.2007 - A 2 S 229/07 - asyl.net: M11472
https://www.asyl.net/rsdb/M11472
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen schlechter Sicherheitslage im Irak; allgemeine Gefahren begründen für sich genommen kein Anspruch auf subsidiären Schutz gem. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Machtwechsel, Baath, Racheakte, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Anerkennungsrichtlinie, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Erlasslage, Abschiebungsstopp, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, allgemeine Gefahr, Sicherheitslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen schlechter Sicherheitslage im Irak; allgemeine Gefahren begründen für sich genommen kein Anspruch auf subsidiären Schutz gem. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen, da der Widerruf der Feststellung, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch hat das Bundesamt im angefochtenen Bescheid zu Recht festgestellt, dass in der Person des Klägers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5, 7 AufenthG und Art. 15 lit. c) der Richtlinie 2004/83/EG nicht vorliegen.

Dem Kläger droht politische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auch nicht von nichtstaatlichen Akteuren (§ 60 Abs. 1 S. 4 c AufenthG). Ob die vom Kläger behauptete Verfolgungsgefahr seitens nichtstaatlicher Akteure - hier Angehörige des ehemaligen Baath-Regimes - eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung darstellt, die in keinem inneren Zusammenhang mit der früheren mehr steht, kann der Senat offen lassen. Denn nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen und unter Würdigung des klägerischen Vortrags kann für diesen eine Gefährdung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 c AufenthG mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Es fehlen insbesondere auch Referenzfälle dafür, dass Verfolgte des Saddam-Regimes nach dem Regierungswechsel weiterhin gezielten Verfolgungsmaßnahmen - etwa in Form terroristischer Anschläge durch die militante Opposition im Irak, die sich teilweise aus arabisch-nationalistischen Kräften, die vom Saddam-Regime profitiert hatten und die im gegenwärtigen Irak keine Zukunft für sich sehen, speist - ausgesetzt sind.

Unabhängig davon ist es auch wenig wahrscheinlich, dass frühere Mitglieder und Anhänger der Baath-Partei die Opfer des Saddam-Regimes weiter verfolgen, um sich selbst - etwa vor Strafverfahren - zu schützen. Auch private Racheakte an ehemaligen Baath-Funktionären sind - in vereinzelter Form - nur bis Anfang 2004 belegt (DOI vom 1.9.2006 an VG München).

Darüber hinaus drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak auch keine landesweiten Gefahren, die ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründen. Die Vorschrift verlangt eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit; die Annahme einer "konkreten" Gefahr in diesem Sinne setzt eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation voraus. Dem vorliegenden Akteninhalt lassen sich Anhaltspunkte für die Annahme einer solchen Gefährdungssituation nicht entnehmen. Bei der allgemein unsicheren Lage, den terroristischen Anschlägen und den wirtschaftlich schlechten Lebensumständen im Heimatland des Klägers handelt es sich um Gefahren allgemeiner Art, die nicht zum Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führen können, weil ihnen die gesamte Bevölkerung des betroffenen Landes - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - ausgesetzt ist. Diese Umstände führen auch nicht ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt einer verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG zu einer Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, da dem Kläger aufgrund der baden-württembergischen Erlasslage ein der gesetzlichen Duldung nach §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60 a AufenthG entsprechender, gleichwertiger Abschiebungsschutz zuteil wird. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe im Senatsurteil vom 4.5.2006 (aaO) verwiesen.

Schließlich hat der Kläger auch keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 (ABl. L 304/12). Die Richtlinie - hier ihre Regelungen über die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus nach Art. 18 in Verb. mit Art. 15 - ist nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 10.10.2006 (Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie) unmittelbar anwendbar. Art. 2 lit.e) der Richtlinie 2004/83/EG definiert die "Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz" als Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der bei einer Rückkehr Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie zu erleiden. Als ernsthafter Schaden gem. Art. 15 lit.c) der Richtlinie 2004/83/EG gilt u.a. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Davon ausgehend dürften die punktuellen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen - insbesondere zwischen Sunniten und Schiiten - in Teilgebieten des Zentraliraks, vor allem in Teilen Bagdads und in anderen Städten im sog. "sunnitischen Dreieck", die Anforderungen an die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erfüllen (vgl. zum Begriff des "innerstaatlichen bewaffneten Konflikts": Hess. VGH, Urteil vom 9.11.2006 - 3 UE 3238/03.A - Juris; Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG, Teil 2 - Subsidiärer Schutz -, Rdnr. 66 bis 68). Ob diese punktuellen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen auch das Gebiet erfassen, aus dem der Kläger stammt und in dessen weiterem Umfeld er seinen Lebensmittelpunkt hatte, lässt der Senat offen.

Es kann schon eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers bei Rückkehr in den Irak nicht angenommen werden.

Art. 15 lit. c) der Richtlinie 2004/83/EG ist im Lichte ihres 26. Erwägungsgrundes auszulegen. Begründungserwägungen, die jedem gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakt vorangestellt werden, sind integraler Bestandteil des Rechtsakts und deshalb zur Auslegung der Vorschriften des betreffenden Rechtsakts heranzuziehen. Dies gilt insbesondere im Rahmen der systematisch-teleologischen Auslegung, auf die der EuGH regelmäßig als notwendige Ergänzung und unerlässliches Korrektiv der Wortlautinterpretation zurückgreift (vgl. zum Ganzen: Borchardt in: Lenz/Borchardt, EU- und EG-Vertrag, 4. Aufl., Art. 220 Rdnr. 23 und 24 vgl. auch EuGH, Urteil vom 20.09.2001 - Rs C- 184/99 -, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193)). Nur diese "Gesamtschau" von Richtlinientext und Erwägungsgründen führt zu einer sachgerechten Auslegung und Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen. Für die Auslegung des Art. 15 lit.c) der Richtlinie 2004/83/EG bedeutet dies Folgendes:

Nach dem 26. Erwägungsgrund stellen Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Damit entspricht die Regelung über die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus nach Art. 15 lit.c) der Richtlinie - bei der Abgrenzung einer individuellen Gefahrenlage für den betreffenden Ausländer von allgemeinen Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes mehr oder weniger gleichartig ausgesetzt sind - im Kern der bisherigen Rechtslage nach § 60 Abs. 7 AufenthG (ebenso OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 22.12.2006 - 1 LA 125/06 - Juris; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand Mai 2007, § 60 AufenthG Rdnr. 134; a.A. VG Stuttgart, Urteil vom 21.5.2007 - 4 K 2563/07 -, InfAuslR 2007, 321, wonach "dem subsidiären Schutz nach Art. 15 lit.c) der Richtlinie 2004/83/EG eine dem § 60 Abs. 7 AufenthG vergleichbare Differenzierung zwischen allgemeinen Gefahren und solchen nicht allgemeiner Art fremd" sei).

Allgemeine Gefahren auf Grund der punktuellen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Teilen des Zentraliraks - etwa Bedrohungen der Zivilbevölkerung auf Grund von Kampfhandlungen zwischen der irakischen Regierung bzw. den multinationalen Streitkräften einerseits und bewaffneten Aufständischen/Islamisten andererseits oder Bedrohungen wegen der schlechten Sicherheitslage bzw. auf Grund der zahlreichen terroristischen Anschläge - betreffen die gesamte irakische Bevölkerung in den genannten "Kampfgebieten". "Kollateralschäden" etwaiger Kampfhandlungen und die Folgen der zahlreichen Bombenanschläge treffen allgemein Zivilpersonen, die sich am Ort des Geschehens aufhalten; für die Annahme einer individuellen Bedrohung im Sinne des Art. 15 lit.c) der Richtlinie kann dies noch nicht als ausreichend erachtet werden. Die individuelle Bedrohung im Sinne von Art. 15 lit.c) der Richtlinie setzt vielmehr - zusätzlich - eine auf die betreffende Person zugeschnittene besondere - konkrete - Gefährdungslage voraus. Eine solche besondere Gefährdungslage lässt sich den Erkenntnisquellen (vgl. u.a. AA-Lagebericht vom 11.1.2007) etwa für Mitglieder der politischen Parteien im Irak, für Journalisten sowie für die intellektuelle Elite des Iraks (z.B. Professoren, Ärzte, Künstler) entnehmen. Auch Soldaten und Polizisten zählen zu den Personen, die besonders häufig und gezielt Opfer von Gewaltverbrechen werden. Für Personen, die besonders im Visier der militanten Opposition stehen, kann - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls - mithin eine individuelle Bedrohung angenommen werden, die über die allgemeine Gefahrenlage im Sinne des 26. Erwägungsgrundes der Richtlinie hinausgeht.

Der Auffassung des Verwaltungsgerichts Stuttgart (Urteil vom 21.5.2007, aaO), das dem 26. Erwägungsgrund keine entscheidende Bedeutung beimisst, weil Art. 15 lit. c) der Richtlinie eine eindeutige Bestimmung sei und kein Auslegungsbedarf bestehe, folgt der Senat nicht. Denn der Gemeinschaftsgesetzgeber ist selbst vom Gegenteil ausgegangen. Der 26. Erwägungsgrund ist gerade auf Art. 15 lit. c) der Richtlinie zugeschnitten; die dort aufgeführten Begriffe "ernsthafter Schaden" und "individuelle Bedrohung" werden aufgegriffen und einschränkend erläutert bzw. definiert. Dass im Übrigen das Tatbestandsmerkmal einer "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson" und damit der Regelungsgehalt des Art. 15 lit. c) der Richtlinie - wie jede andere Rechtsvorschrift auch - einen Auslegungsspielraum eröffnet und damit auch der Auslegung bedarf, liegt auf der Hand.

Die Auslegung des Senats, wonach auf der Grundlage des 26. Erwägungsgrundes eine Gefahrenlage, der die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt ist, grundsätzlich keinen Anspruch auf subsidiären Schutz begründet, führt auch nicht zu einem "Anwendungsausschluss" oder "Leerlaufen" des Art. 15 lit. c) der Richtlinie (a.A. VG Stuttgart, aaO). Wie oben dargelegt, eröffnet Art. 15 lit. c) der Richtlinie auch bei Berücksichtigung des Erwägungsgrundes in Fällen einer besonderen Gefährdungslage einen - wenn auch engen - Anwendungsbereich. Im Übrigen setzt die Richtlinie 2004/83/EG lediglich einen Mindeststandard für den Flüchtlingsschutz fest, den die Mitgliedstaaten nicht unterschreiten dürfen. Dies ergibt sich nicht nur aus der Bezeichnung der Richtlinie als Richtlinie "über Mindestnormen", sondern auch aus der 6. Begründungserwägung. Es liegt in der Natur von Mindestnormen, dass es den Mitgliedstaaten unbenommen bleibt, günstigere Regelungen für Flüchtlinge zu schaffen (vgl. dazu die 8. Begründungserwägung). Demzufolge können sich "Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz" im Sinne von Art 2 lit. e) der Richtlinie 2004/83/EG in der Bundesrepublik Deutschland - als Mindeststandard - nicht nur auf diese Richtlinie, sondern darüber hinaus auf ein abgestuftes und differenziertes System zur Gewährung von Abschiebungsschutz und Duldung nach §§ 60 Abs. 7, 60 a Abs. 1 AufenthG berufen, das auch eine verfassungskonforme Auslegung von § 60 Abs. 7 AufenthG bei einer extremen allgemeinen Gefahrenlage (vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 203) umfasst. § 60 Abs. 7 AufenthG und die in diesem Zusammenhang erfolgte Rechtsfortbildung enthält etwa günstigere Regelungen für Flüchtlinge hinsichtlich der beachtlichen Anknüpfungspunkte für relevante Gefahren (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21.3.2007 - 20 A 5164/-, Juris).

Nicht gefolgt werden kann ferner der Auffassung von Marx (aaO, Rdnr. 79), dass - wenn die Situation im Herkunftsland von willkürlichen Gewaltmustern geprägt sei - keine Situation allgemeiner Gewalt im Sinne des 26. Erwägungsgrundes der Richtlinie vorliege. Nach dieser Auffassung begründen allgemeine Gefahren infolge interner bewaffneter Konflikte generell subsidiären Schutz im Sinne von Art. 15 lit. c) der Richtlinie. Der subsidiäre Schutz sei nur dann ausgeschlossen, wenn die allgemeinen Gefahren - wie etwa die aus der allgemeinen Kriminalität resultierenden allgemeinen Gefahren - nicht Ausdruck interner bewaffneter Konflikte seien. Eine solche Auslegung lässt sich mit dem Gehalt des 26. Erwägungsgrundes der Richtlinie nicht vereinbaren.

Art. 15 lit. c) der Richtlinie setzt bereits tatbestandlich Gefahren auf Grund eines internen bewaffneten Konflikts voraus, allgemeine Kriminalitätsgefahren unterfallen mithin von vornherein nicht dem Anwendungsbereich des subsidiären Schutzes. Der 26. Erwägungsgrund der Richtlinie wäre also für den Ausschluss allgemeiner Kriminalitätsgefahren von vornherein überflüssig. Den Anwendungsbereich des Art. 15 lit. c) der Richtlinie konkretisierende Wirkung kommt der 26. Begründungserwägung insoweit nur dann zu, wenn der Anspruch auf subsidiären Schutz - für den Normalfall - auch dann ausgeschlossen ist, wenn die allgemeine Gefahrenlage Ausdruck und Folge interner bewaffneter Konflikte ist.