VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 06.09.2007 - 1 K 3974/06.A - asyl.net: M11476
https://www.asyl.net/rsdb/M11476
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen russischen Staatsangehörigen nach Inhaftierung und Misshandlung wegen Verdachts der Beteiligung an Rebellenüberfall

 

Schlagwörter: Russland, Verdacht der Mitgliedschaft, Rebellen, Strafverfahren, Inhaftierung, Folter, menschenrechtswidrige Behandlung, Glaubwürdigkeit, Verfolgungszusammenhang, Kabardino-Balkarien, interne Fluchtalternative, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für einen russischen Staatsangehörigen nach Inhaftierung und Misshandlung wegen Verdachts der Beteiligung an Rebellenüberfall

(Leitsatz der Redaktion)

 

Er hat allerdings gemäß §§ 3 Abs. 1 und 31 Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes i.d.F. von Art. 3 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007, BGBl. I 1970, (AsylVfG) Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da er im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (Russische Föderation), den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes ausgesetzt ist.

Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass er die Russische Föderation vorverfolgt verlassen hat, weshalb ihm der herabgestufte Prognosemaßstab zugute kommt.

Der Kläger hat geltend gemacht, er sei zu Unrecht verdächtigt worden, sich am 13.10.2005 an einem von Rebellen durchgeführten Überfall auf Naltschik beteiligt zu haben. Er sei deshalb am 15.10.2005 festgenommen worden und bis zum 01.12.2005 in Haft geblieben. Obwohl er eine Beteiligung am Überfall geleugnet habe, sei er bei den ständigen Verhören mit Fäusten und auch mit Gummiknüppeln misshandelt worden, wodurch er u.a. einen Jochbeinbruch erlitten habe. Auch nach seiner Haftentlassung habe er weiter unter Beobachtung gestanden und befürchten müssen, dass die Sicherheitskräfte ihn verschwinden ließen.

Dieser Vortrag ist nach Art und Intensität der Verfolgungsmaßnahmen gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erheblich, wobei sich die politische Gerichtetheit der Maßnahmen daraus ergibt, dass man den Kläger als Kollaborateur der für eine Unabhängigkeit der Kaukasusstaaten eintretenden Rebellen eingestuft hat.

Das Gericht hält das diesbezügliche Vorbringen des Klägers auch für glaubhaft.

Es fehlt ferner nicht am nötigen Kausalzusammenhang zwischen dieser Vorverfolgung und der Flucht (vgl. dazu: BVerwG, Beschluss vom 13.11.2003, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 276).

Zwar hat sich der Kläger nach seiner Freilassung noch mehrere Monate, bis Ende Juni 2006, in Kabardino-Balkarien aufgehalten. Doch hat er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er sich in der Nähe von Naltschik in einem Bergdorf aus Angst vor erneuter Verfolgung versteckt gehalten hat. Außerdem hat er in dieser Zeit erfahren, dass russische Soldaten ihn bei seinen Eltern gesucht haben. Unter diesen Umständen stellt sich die Ausreise Ende Juni 2006 als eine unter dem Druck erlittener Verfolgung stattfindende Flucht dar.

Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung ferner eingeräumt hat, dass sein Inlandspass bei seinem Abflug von Naltschik nach Moskau kontrolliert worden sei, ist dies kein Beleg für ein fehlendes Interesse der russischen Sicherheitskräfte, des Klägers habhaft zu werden, da dieser in der mündlichen Verhandlung auf entsprechende Nachfrage unwiderleglich angegeben hat, dass sein Vater die kontrollierenden Personen bestochen habe.

Der Kläger hätte sich einer weiteren Verfolgung auch nicht durch Flucht in einen anderen Teil der Russischen Föderation entziehen können. Zwar geht das Gericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) davon aus, dass in aller Regel Tschetschenen und anderen Kaukasusflüchtlingen in den meisten Bereichen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative offen steht und ihnen die Aufenthaltnahme dort grundsätzlich zugemutet werden kann. Dies gilt allerdings nicht für politisch Verdächtige, die sich für eine Unabhängigkeit der Kaukasusrepubliken besonders engagiert haben und von der russischen Staatsgewalt wegen dieses Engagements oder - wie im Fall des Klägers - einer nur vermuteten Beteiligung konkret verdächtigt bzw. gesucht werden. Bei ihnen kann eine inländische Fluchtalternative nicht bejaht werden, so dass die Gefahr einer Verfolgung nicht mit der erforderlichen Sicherheit zu verneinen ist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A -, NRWE-Dokumentation sowie JURIS-Dokumentation).

Ebensowenig lässt sich jetzt und auf absehbare Zeit eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen. Vielmehr hätte der Kläger bei einer freiwilligen oder erzwungenen Rückkehr nach Russland Übergriffe, die im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG relevant wären, bereits im Zusammenhang mit der Einreise zu befürchten.

Im Falle einer Abschiebung aus Deutschland kommen russische Staatsangehörige üblicherweise auf dem Luftweg in Moskau an. Bei den Einreiseformalitäten ist davon auszugehen, dass die russischen Behörden rückgeführten Kaukasusflüchtlingen, die sich für eine Unabhängigkeit der Kaukasusstaaten eingesetzt haben oder bei denen ein solches Engagement unterstellt wird, besondere Aufmerksamkeit widmen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17.03.2007, S. 28, ebenso OVG NRW, Urteil vom 12.07.2005 a.a.O. m.w.N.; Bay.VGH, Urteil vom 31.01.2005, a.a.O., - JURIS-Dokumentation -).

Da der Kläger sich verdächtig gemacht hat, muss er damit rechnen, bereits bei seiner Einreise identifiziert und festgenommen zu werden.

Da es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft nach wie vor immer wieder zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung durch Polizei und Sicherheitsbehörden kommt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17.03.2007, S.25), ist der Kläger vor erneuten asylrelevanten Maßnahmen schon bei der Einreise nicht hinreichend sicher.