VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 29.08.2007 - 5 A 117/07 - asyl.net: M11488
https://www.asyl.net/rsdb/M11488
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Blutrache, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Flüchtlingsfrauen, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, Existenzminimum
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Blutrache, da der Staat schutzbereit und -fähig ist; § 60 Abs. 7 AufenthG für alleinerziehende Mutter eines Kleinkindes ohne Unterstützung der Familie

(Leitsätze der Redaktion)

 

1. Die Klage ist im Hauptantrag unbegründet. Der Klägerin steht weder ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG noch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Insoweit nimmt das Gericht gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG auf die Gründe des angefochtenen Bescheides Bezug.

Ergänzend und im Hinblick auf den Vortrag im gerichtlichen Verfahren führt das Gericht aus, dass die von der Klägerin befürchteten Racheakte seitens ihrer Familie bereits nach ihrem eigenen Vortrag keine Akte türkischer staatlicher Gewalt im Sinne einer politischen Verfolgung darstellen. Die befürchteten Straftaten, die in den Bereich der Blutrache fallen, sind gemäß dem türkischen Strafgesetzbuch mit lebenslanger Haftstrafe bedroht. Der türkische Staat ist willens und in der Lage, gegen kriminelle Übergriffe durch Dritte einzuschreiten und die Betroffenen zu schützen. Der türkische Staat ahndet Blutrachetaten hart und unabhängig von der Volkszugehörigkeit der betroffenen Familien, weil die Blutrache den staatlichen Interessen wegen des Verstoßes gegen das staatliche Straf- und Gewaltmonopol zuwiderläuft (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 04.02.2005 - 11 LA 17/05 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 23.10.2006 - 6 K 2348/05.A -, juris; VG Saarland, Urteil vom 27.04.2006 - 6 K 137/04.A -, juris; VG Braunschweig, Urteil vom 19.08.2003 - 5 A 278/03 -).

II. Die Klage ist jedoch mit dem Hilfsantrag begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihr die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Klägerin hat am ... 2006 ein nichteheliches Kind geboren. Sie hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass sie aufgrund des nichtehelichen Kindes und ihrer Flucht vor einer von Ihrer Familie arrangierten Heirat von ihrer Familie bei einer Rückkehr in die Türkei verstoßen, zumindest nicht unterstützt werde. Sie ist damit in der Türkei ohne jeglichen familiären Rückhalt.

Die Kammer geht in ihrer bisherigen Rechtsprechung (vgl VG Braunschweig, Urteil vom 17.01.2005 - 5 A 29/04 -; Urteil vom 06.12.2004 - 5 A 298/04 -) zwar davon aus, dass alleinstehende Frauen - auch ohne Berufsausbildung - bei einer Rückkehr in die Westtürkei nicht notwendig in eine ausweglose Situation geraten, weil grundsätzlich die Möglichkeit besteht, staatliche Unterstützung zu erhalten. Zum Beispiel gewährt der Fonds für Sozialhilfe und Solidarität in sozialen Notlagen mittellosen Personen Unterstützung und es besteht die Möglichkeit der Unterbringung in Frauenhäusern. Hierbei berücksichtigt das Gericht aber auch, dass die Versorgung der Bedürftigen uneinheitlich und anhand subjektiver Kriterien erfolgt und die Anzahl der verfügbaren Plätze in den Frauenhäusern sehr begrenzt ist (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei (Stand: Dezember 2006) des Auswärtigen Amtes, S. 43; Gutachten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 31.08.2005 Türkei, S. 11 ff.). Unter Beachtung dieser generellen Unzulänglichkeiten der staatlichen Unterstützung in der Türkei und den von der Klägerin vorgetragen Umständen, insbesondere des Fehlens jeglichen familiären Rückhalts und der Pflege eines Kleinkindes, entspricht ihre Situation nicht der normalen Situation alleinstehender Frauen in der Westtürkei. Da sie ihr Kind aufgrund seines Alters pflegen und beaufsichtigen muss, wird sie nicht dazu in der Lage sein, auch nur Gelegenheitsarbeiten annehmen zu können und damit den notwendigen Lebensunterhalt für sich und ihr Kind zu erwirtschaften. Ihre wirtschaftliche Existenz ist damit - auch in der Westtürkei - als alleinerziehende Mutter eines Kleinkindes nicht gewährleistet (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 17.01.2005 aaO, für eine alleinerziehende Mutter in der Türkei; vgl. VG Mainz; Urteil vom 17.02.2005, aaO, für eine schwangere Frau in der Türkei; vgl. ferner OVG Saarland, Beschluss vom 12.07.2006 - 3 Q 45/05 - juris, für eine alleinerziehende Mutter mit Kleinkindern im Kongo; generell a.A. offenbar OVG Nordrhein-Westfalen aaO, für eine schwangere Frau in Kabul).