SG Fulda

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Zitieren als:
SG Fulda, Beschluss vom 13.09.2007 - S 7 AY 7/07 ER - asyl.net: M11504
https://www.asyl.net/rsdb/M11504
Leitsatz:

Rechtsmissbräuchliches Verhalten i. S. d. § 2 Abs. 1 AsylbLG muss konkret ursächlich für die Verlängerung des Aufenthalts sein (hier abgelehnt bei Einreiseverweigerung des Herkunftsstaats sowie für Einreise über sicheren Drittstaat).

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Passlosigkeit, illegale Einreise, sicherer Drittstaat, Drittstaatenregelung, Syrien, Staatenlose, Einreiseverweigerung, freiwillige Ausreise, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2; RL 2003/9/EG Art. 16
Auszüge:

Rechtsmissbräuchliches Verhalten i. S. d. § 2 Abs. 1 AsylbLG muss konkret ursächlich für die Verlängerung des Aufenthalts sein (hier abgelehnt bei Einreiseverweigerung des Herkunftsstaats sowie für Einreise über sicheren Drittstaat).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung das bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.

Der Antragsteller hat Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund ist vorliegend gegeben. Zwar ist die Annahme einer besonderen Eilbedürftigkeit für die vorläufige Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG zweifelhaft, da die Leistungen nach den §§ 3 ff. AsylbLG schon nach der gesetzlichen Wertung eine ausreichende Existenzsicherung darstellen und sich in einer Vielzahl von Fällen auch praktisch als geeignet erwiesen haben, die notwendige Existenzsicherung für Asylbewerber zur Verfügung zu stellen (LSG NRW, Beschluss v. 21.12.2005 - L 20 (9) B 37/05; a.A. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 27.03.2006 - L 3 ER 37/06 AY; LSG Hamburg, Beschluss v. 27.04.2006 - L 4 B 84/06 ER AY; OVG Bremen, Beschluss v. 6.09.2005 - S 3 B 199/05).

Dem Antragsteller ist es gelungen, einen Anordnungsanspruch nach § 2 Abs. 1 AsylbLG glaubhaft zu machen.

Was unter "rechtsmissbräuchlich" im Sinne des § 2 Abs. 11 AsylbLG zu verstehen ist, wird weder in der Vorschrift selbst noch an anderer Stelle des AsylbLG definiert. Aus dem Wortverständnis und auch aus den Gesetzesmaterialien (BR-Drucksache Nr. 22/03 vom 16. Januar 2003. S. 295 f.) zum Zuwanderungsgesetz 2004 (BGBl I S. 1950) ergibt sich aber, dass unter "rechtsmissbräuchlicher Beeinflussung" ein verschuldensgetragenes Fehlverhalten zu verstehen ist. Unter Hinweis auf die Vereinbarkeit mit einer zum damaligen Zeitpunkt erwarteten europarechtlichen Regelung wurden hierfür beispielhaft die Vernichtung des Passes sowie die Angabe einer falschen Identität erwähnt. Die inzwischen in Kraft getretene EU-Richtlinie (2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003, in GK-AsylbLG Bd. 2, IX-1, S. 11 ff.) führt unter Art. 16 als Fehlverhaltensweisen, die sich auf die Dauer des Aufenthalts auswirken können, insbesondere das unerlaubte Verlassen eines zugewiesenen Aufenthaltsorts, den Verstoß gegen Melde-, Auskunfts- und bestimmte Mitwirkungspflichten sowie die mehrfache oder verspätete Stellung eines Asylantrages auf. Von einem Rechtsmissbrauch im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG kann dann ausgegangen werden, wenn Ausländer versuchen, eine Rechtsposition unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu erlangen und auszunutzen.

Solche Verhaltensweisen sind vorliegend nicht gegeben. Der Antragsgegner stützt sich im Wesentlichen darauf, der Antragsteller sei ohne die erforderlichen Einreisedokumente und ohne asylrelevante Gründe in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Es ist aber nicht ersichtlich, wie dieses Verhalten die Aufenthaltsdauer beeinflusst haben soll. Das Fehlen von Ausweispapieren ist vorliegend nicht kausal für den Verbleib im Bundesgebiet, denn unstreitig ist dem Antragsteller eine Ausreise nicht möglich, da ihm die Wiedereinreise nach Syrien verweigert wird. Die Einreise über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland stellt allein keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer dar, auch wenn dadurch die Gewährung von Asyl nach Art. 16 a GG ausgeschlossen ist (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 27.03.2006 - L 3 ER 37/06 AY). Denn es ist nicht nachvollziehbar, wie sich die Unterscheidung der Einreise aus einem sicheren oder unsicheren Drittstaat auf die Dauer des Aufenthalts auswirken soll. Da bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat die Gewährung von Asyl ausgeschlossen ist, dürfte sich im Gegenteil der Aufenthalt durch ein schneller abzuschließendes Asylverfahren grundsätzlich sogar verkürzen.

Eine Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts ist dann zu bejahen, wenn eine Ausreise aus dem Bundesgebiet andernfalls zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen wäre, also ein kausaler Zusammenhang zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und der möglichen Beendigung des Aufenthalts besteht (Hessisches LSG, Beschluss v. 30.10.2006 - L 9 AY 7/06 ER).

Unter rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG ist nach der neuesten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil v. 8.02.2007 - B 9b AY 1/06 R) auch eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) erlangt hat, zu verstehen. Darunter fällt auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland, dem es möglich und zumutbar wäre, auszureisen (vgl. Hohm in GK-AsyIbLG, Stand Dezember 2006, § 2 RdNr 79 ff, 87 f.; ähnlich auch Herbst in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, Band II, § 2 AsylbLG, RdNr. 37; LSG Baden-Württemberg, SAR 2006, 33; OVG Bremen, SAR 2006, 21).

Die Rechtsordnung verlangt von Ausländern für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel in Form eines Visums, einer Aufenthalts- oder einer Niederlassungserlaubnis (§ 4 Abs. 1 AufenthG). Wer darüber nicht oder nicht mehr verfügt, ist unverzüglich oder bis zum Ablauf einer ihm gesetzten Frist zur Ausreise verpflichtet (§ 50 Abs. 1 und 2 AufenthG). Kommt er dem nicht nach, ist die Ausreise zwangsweise im Wege der Abschiebung durchzusetzen (§ 58 Abs. 1 AufenthG). Ist das aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich, wird die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt (§ 60a Abs. 2 AufenthG). Durch die "Duldung" bleibt die Ausreisepflicht unberührt (§ 60a Abs. 3 AufenthG).

Nach dieser Konzeption widerspricht der weitere Inlandsaufenthalt des ausreisepflichtigen, aber geduldeten Ausländers der Rechtsordnung. Lässt seine Ausreisepflicht sich nicht zwangsweise durchsetzen, wird ihm zwar auch ohne entsprechenden Titel ein vorübergehender Aufenthalt ohne Verstoß gegen Strafvorschriften (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) möglich gemacht. Die Forderung, selbstständig auszureisen und damit den nicht rechtmäßigen Aufenthalt zu beenden, bleibt aber bestehen.

Wer diese Pflicht vorwerfbar nicht befolgt, macht funktionswidrig unter Verstoß gegen Treu und Glauben von der durch Duldung eingeräumten Rechtsposition Gebrauch. Vorwerfbar in diesem Sinne ist es regelmäßig, wenn der Ausländer nicht ausreist, obwohl ihm das möglich und zumutbar wäre. Denn sein weiterer Aufenthalt wird in Erwartung rechtspflichtkonformen Verhaltens durch selbstständige Ausreise (vgl. BR-Drucks 36/07, S. 8) nur wegen der Ohnmacht des Staates geduldet, das geltende Recht zwangsweise durchzusetzen.

Diese Interpretation des Begriffs "rechtsmissbräuchlich" in § 2 Abs. 1 AsylbLG wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Danach sollen nur diejenigen Ausländer Leistungen nach § 2 AsylbLG erhalten, "die unverschuldet nicht ausreisen können" (BT-Drucks 15/420, S. 121). Dazu zählt nicht, wer der Ausreisepflicht nicht nachkommt, obwohl das sowohl tatsächlich und rechtlich möglich als auch zumutbar ist. Entscheidend ist im Ergebnis der vollstreckungsrechtliche Charakter einer Duldung, deren "Nutzung" untrennbar mit einem Verstoß gegen die fortbestehende Ausreisepflicht verbunden ist.

Der Antragsteller hat insoweit glaubhaft gemacht, dass ihm eine Ausreise nicht möglich ist und er unverschuldet nicht ausreisen kann, da ihm die Wiedereinreise nach Syrien verweigert wird.