LSG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.08.2007 - L 20 B 50/07 AY ER - asyl.net: M11523
https://www.asyl.net/rsdb/M11523
Leitsatz:

Bei der 36-Monats-Frist nach § 2 Abs. 1 AsylbLG a. F. zählen Zeiten des Bezugs von Jugendhilfeleistungen mit.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, 36-Monats-Frist, Jugendhilfe, Sozialhilfebezug, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b
Auszüge:

Bei der 36-Monats-Frist nach § 2 Abs. 1 AsylbLG a. F. zählen Zeiten des Bezugs von Jugendhilfeleistungen mit.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Im Übrigen ist die Beschwerde der Antragsgegnerin jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat sowohl zutreffend einen Anordnungsgrund im Sinne der Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung als auch einen Anordnungsanspruch im Sinne des geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruches für glaubhaft gemacht angesehen.

Ein Anordnungsgrund folgt bereits daraus, dass die begehrten Leistungen nach § 2 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII lediglich geeignet sind, das sog. soziokulturelle Existenzminimum (vgl. hierzu Martinez Soria, Das Recht auf Sicherung des Existenzminimums, JZ 2005, 644, 647ff.) der Antragstellerin sicher zu stellen; an diesem haben sich nach dem SGB XII bemessene Leistungen zu orientieren (vgl. Armborst/Birk, in: LPK-SGB XII, 7. Auflage 2005, § 1 Rn. 4). Es ist jedoch nur bei ersichtlich zweifelhaftem Anordnungsgrund zumutbar, mit Leistungen unterhalb dieses soziokulterellen Existenzminimums solange zu wirtschaften, bis im Hauptsacheverfahren eine Entscheidung herbeigeführt worden ist. Geht es um die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums und kann sich ein Hauptsacheverfahren unter Umständen über mehrere Jahre hinziehen, so besteht ein Anordnungsgrund regelmäßig bereits dann, wenn der geltend gemachte materiell-rechtliche Anspruch überwiegend wahrscheinlich erscheint und damit glaubhaft gemacht ist.

Auch ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin ist bei summarischer Prüfung nicht zweifelhaft; vielmehr ist ein Anspruch auf höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG glaubhaft gemacht:

Der Antragsgegnerin ist zuzugeben, dass allein auf Grund des Wortlauts der Vorschrift ein Anspruch der Antragstellerin auf Leistungen nach § 2 AsylbLG ausscheiden müsste. Denn sie hat zwar mit den Jugendhilfeleistungen Sozialleistungen über einen Zeitraum bezogen, der die Dauer von 36 Monaten deutlich überschreitet; diese Leistungen nach dem SGB VIII sind jedoch keine Leistungen nach § 3 AsylbLG.

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin sind jedoch neben dem Gesetzeswortlaut auch andere juristische Auslegungskriterien zu berücksichtigen; diese machen im Falle der Antragstellerin das Bestehen des von ihr geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruchs gerade überwiegend wahrscheinlich.

Insoweit kommt bei summarischer Prüfung dem Sinn und Zweck der leistungsrechtlichen Privilegierung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG entscheidende Bedeutung zu. Bei Leistungsberechtigten, bei denen auf Grund ihres längeren Aufenthalts eine stärkere Angleichung an die Lebensverhältnisse in Deutschland erforderlich ist, sollen Leistungen in entsprechender Höhe wie nach dem SGB XII erbracht werden (BT-Drucks. 12/5008, S. 15; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2005, § 2 Rn. 1). Der Gesetzgeber geht damit bei Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG im Regelfall davon aus, dass nach Ablauf von 36 Monaten des Bezuges niedrigerer Leistungen nach § 3 AsylbLG ein Wirtschaften unterhalb des sog. soziokulturellen Existenzminimums (welches etwa mit Leistungen nach dem SGB XII bzw. mit Leistungen nach § 2 AsylbLG gewährt wird) nicht mehr zumutbar erscheint. Dabei hat der Gesetzgeber bei summarischer Prüfung vor Augen gehabt, dass Asylbewerber regelmäßig auf Leistungen nach § 3 AsylbLG angewiesen sind. War während einer 36-monatigen Aufenthaltsdauer ausnahmsweise ein Leistungsbezug nach dem AsylbLG im Einzelfall nicht notwendig, ist im Anschluss an diesen dreijährigen Aufenthalt das Integrationsbedürfnis des Betroffenen gleichwohl ebenso angewachsen wie im Falle eines Leistungsbezugs nach dem AsylbLG; ebenso wie bei einem Vorbezug von Leistungen nach dem AsylbLG erscheint nach entsprechend langem Einleben in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ein Wirtschaften unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums nach Ablauf dieser Frist deshalb regelmäßig nicht weiter zumutbar. Es entspricht daher bei summarischer Prüfung den gesetzgeberischen Vorstellungen, dass nach Ablauf dieses Zeitraums Leistungen entsprechend dem SGB XII zustehen sollen, auch wenn zuvor ausnahmsweise ein Leistungsbezug nach § 3 AsylbLG nicht notwendig gewesen ist.

Entsprechend dem Vorstehenden hat der Senat bereits mit Beschluss vom 27.04.2006 - L 20 B 10/06 AY ER zur Auffüllung der 36-Monats-Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG auch den Bezug von Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ausreichen lassen (ebenso LSG Hessen, Beschluss vom 21.03.2007 - L 7 AY 14/06 ER). Wollte man im Anschluss daran fordern, jedenfalls solche Zeiten, in denen einem Antragsteller über den Umfang solcher Leistungen (die das soziokulturelle Existenzminimum gerade abdecken) hinaus (etwa wegen des Bezugs deutlich höherer Leistungen nach dem SGB VIII) Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes zur Verfügung gestanden haben, nicht in die 36-Monats-Frist einzubeziehen, hieße das, einem Leistungsberechtigten für einen Anspruch nach § 2 Abs. 1 AsylbLG stets abzufordern, insgesamt über drei Jahre mit Mitteln in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums gewirtschaftet zu haben, gleichviel, wie lange er sich schon in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Deutschland eingelebt hat; weitergehend nimmt die Antragsgegnerin offenbar sogar an, es bestehe in jedem Falle eine Pflicht, 36 Monate mit Leistungen nach § 3 AsylbLG und damit mit Mitteln deutlich unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums gewirtschaftet zu haben, gleichviel, wie lange zuvor bereits eine Eingewöhnung in die hiesigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse stattgefunden hat. Eine solche Lesart des § 2 AsylbLG ist erkennbar zweckwidrig. Gerade das Integrationsbedürfnis, zu dessen Befriedigung auch ausreichende wirtschaftliche Leistungen auf der Höhe des soziokulturellen Existenzminimums gehören, besteht unabhängig davon, ob ein Asylbewerber seinen Lebensunterhalt über einen mindestens 36-monatigen Zeitraum durch Leistungen nach § 3 AsylbLG oder jedenfalls aus Mitteln nicht oberhalb des soziokulturellen Existenzminimums bestritten hat, oder ob er z.B. durch den Bezug von Jugendhilfeleistungen, durch Erwerbstätigkeit oder den Bezug höherer anderer Leistungen (etwa Arbeitslosengeld) den Lebensunterhalt anderweitig und unter günstigeren wirtschaftlichen Voraussetzungen hat sicherstellen können. Dementsprechend hat der Senat mit Beschluss vom 26.04.2007 - L 20 B 4/07 AY ER etwa Zeiten der Erwirtschaftung eigenen Erwerbseinkommens für die Auffüllung der 36-Monats-Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG ausreichen lassen.