VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 13.09.2007 - 5 A 81/06 - asyl.net: M11558
https://www.asyl.net/rsdb/M11558
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, PKK, Verdacht der Unterstützung, Mitglieder, Reformen, politische Entwicklung, Sippenhaft, exilpolitische Betätigung, Brandstiftung, Terrorismus
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

In der Türkei besteht keine hinreichende Sicherheit vor sippenhaftähnlicher Gefährdung für Familienangehörige von Unterstützern der PKK.

 

Rechtsgrundlage der angefochtenen Widerrufsverfügung ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Der Widerruf konnte nicht nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wegen Änderung der Verhältnisse in der Türkei erfolgen.

Hinsichtlich der Situation von Kurden, die in der Türkei in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten sind und zur Menschenrechtslage nach Einleitung des Reformprozesses in der Türkei hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht grundlegend (Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, Rechtsprechungsdatenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im Internet) festgestellt, dass auch nach der Einleitung bzw. Durchführung des Reformprozesses und der Neufassung der Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes weiterhin im Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung angenommen werden muss.

Diesen Feststellungen schließt sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung (beginnend mit Urteil vom 24.10.2006 - 5 A 490/03 -) an und stellt auf der Grundlage des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes und allgemein zugänglicher Zeitungsberichte ausdrücklich fest, dass sich an der beschriebenen Lage nichts verbessert hat. Es bestehen danach bereits erhebliche Zweifel daran, ob in der Türkei generell eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems stattgefunden hat, wie sie nach dem oben Gesagten Voraussetzung für den Widerruf der Asylanerkennung nach § 73 AsylVfG i. V. m. Art 1 C Ziff. 5 GFK ist. Insbesondere hinsichtlich der Verfolgung von kurdischen Volkszugehörigen, die in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten sind, kann eine politische Verfolgung im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden.

Unter diesen Voraussetzungen kann auch unter dem Gesichtspunkt sippenhaftähnlicher Maßnahmen eine politische Verfolgung der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Zwar hat das erkennende Gericht in einem Asylerstverfahren entschieden, dass im Zuge des Reformprozesses in der Türkei eine sippenhaftähnliche Verfolgung grundsätzlich nicht mehr mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohe und in der Regel nur noch bei nahen Verwandten von Personen gegeben sei, die ihrerseits landesweit mit Haftbefehl gesucht werden oder an führender Stelle separatistische Organisationen unterstützen (Urteil vom 05.12.2005 - 5 A 293/05), und ist in dieser Auffassung durch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bestätigt worden (Beschluss vom 02.02.2006 - 11 LA 08/06 -). Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in einem Asylerstverfahren darüber hinausgehend festgestellt, sippenhaftähnliche Maßnahmen würden generell - auch nahen Angehörigen von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation - gegenwärtig nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -, juris). Nach dem im vorliegenden Widerrufsverfahren anzuwendenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist aber auch nach der zitierten Rechtsprechung eine Verfolgung jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen (so im Ergebnis auch: VG Ansbach, Urteil vom 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 -, juris).

Die konkreten Feststellungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsrechts in seinem Urteil vom 12.09.2001 (aaO), dass die Kläger damit rechnen müssten, wegen der von ihrem Sohn im Auftrag der PKK begangenen Straftat unter dem Gesichtspunkt einer sippenhaftähnlichen Verfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei menschenrechtswidrigen Misshandlungen oder Folterungen ausgesetzt zu werden, sind nach Ansicht des Gerichts im angefochtenen Bescheid im Hinblick auf die aktuelle politische Entwicklung in der Türkei nicht ausreichend widerlegt.

Zum einen kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Kläger menschenrechtswidrigen Misshandlungen bei der Rückkehr in die Türkei ausgesetzt werden, weil die Unterstützungshandlung des Sohnes der Kläger für die PKK schwerwiegend war. Daher ist nicht davon auszugehen, dass der türkische Staat jegliches Interesse an der Verfolgung des Sohnes und damit auch der Kläger verloren hat. Für kurdische Asylbewerber besteht weiterhin ein beachtliches Verfolgungsrisiko, wenn sie sich öffentlichkeitswirksam und exponiert exilpolitisch betätigt haben (Nds. OVG, Urteil vom 25.01.2007 - 11 LB 04/06 -, Rechtsprechungsdatenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts). Zu einer solchen öffentlichkeitswirksamen Betätigung gehört der Brandanschlag des Sohnes. Der Sohn war damit zwar nicht an führender Stelle in die PKK eingebunden, er hatte diese jedoch in einem öffentlichkeitswirksamen und symbolischen Terrorakt unterstützt

Zum anderen besteht im Einzelfall in der Türkei weiterhin die Gefahr von sippenhaftähnlichen Maßnahmen. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen führt in dem Urteil vom 19.04.2005 (aaO) wie auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in dem Urteil vom 18.07.2006 (Az. - 11 LB 264/05 -, Rechtsprechungsdatenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im Internet) aus, dass Übergriffe auf Familienangehörige nach wie vor stattfinden und schließt die Möglichkeit einer asylrelevanten Verfolgung unter dem Gesichtspunkt sippenhaftähnlicher Maßnahmen nicht generell aus. Beide Urteile nehmen auf den Hinweis von amnesty international Bezug (Länderkurz-Info Türkei vom 31.7.2005; vgl. insoweit auch das Gutachten der SFH vom 23.02.2006: Türkei - Rückkehr eines ehemaligen PKK-Aktivisten), dass vor allem Angehörige gesuchter PKK-Mitglieder starkem Druck ausgesetzt seien. Sie würden oft bedroht, aufgefordert, die betreffenden Verwandten herbeizuschaffen, oder verdächtigt, selbst die PKK zu unterstützen. Es komme aber auch zu Festnahmen und Folterungen. Dementsprechend weist auch die Schweizer Flüchtlingshilfe (Bericht zur aktuellen Situation in der Türkei vom 29.. Mai 2006) daraufhin, dass immer noch Familienangehörige von staatskritischen Aktivisten bedroht und teilweise sowohl festgenommen als auch gefoltert wurden. In einem Fall seien die Eltern eines in Belgien lebenden kurdischen Aktivisten nach monatelangen Drohungen durch türkische Behörden von Dorfschützern umgebracht worden. Die Kläger führen weiterhin den Fall einer im Jahre 2002 aus der Haft entlassenen Frau an, die bei der Operation gegen die Gefängnisse vom 19.12.2000 verletzt wurde und nun im Ausland lebt. Ihre in Istanbul lebende Familie sei von türkischen Sicherheitskräften dauernd belästigt worden und es sei zu wiederholten Hausdurchsuchungen gekommen (Özgür Gündem vom 07.10.2004 in: Übersetzungen aus den Tagesberichten der TIHV Woche 41/2004).

Diese Fälle belegen, auch wenn die türkischen Sicherheitskräfte die Schwelle der asylerheblichen Intensität unter Umständen nicht immer überschritten, dass zukünftige asylerhebliche Maßnahmen gegen Familienmitglieder nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können. Insbesondere ergriffen die türkischen Sicherheitskräfte Maßnahmen auch in Fällen, in denen der Gesuchte bzw. Verfolgte, wie hier der Sohn der Kläger, gar nicht in der Türkei sondern im Ausland lebt.