OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - asyl.net: M11559
https://www.asyl.net/rsdb/M11559
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Rechtsschutzbedürfnis, Aufenthaltserlaubnis, Bleiberechtsregelung, Altfallregelung, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Sachlage, Drei-Monats-Frist, neue Beweismittel, Ermessen, extreme Gefahrenlage, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Glaubwürdigkeit, traumatisierte Flüchtlinge, Vergewaltigung, Situation bei Rückkehr, Retraumatisierung, Suizidgefahr, interne Fluchtalternative, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 23 Abs. 1; AufenthG § 104a; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2; VwVfG § 51 Abs. 3; VwVfG § 51 Abs. 5
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen Gefahr von Retraumatisierung und Suizid eines Vergewaltigungsopfers aus Kosovo; eine Aufenthaltserlaubnis nach der Bleiberechts- oder Altfallregelung lässt nicht das Rechtsschutzbedürfnis einer Klage auf Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG entfallen.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Die zulässige Berufung ist unbegründet, da das Verwaltungsgericht die Beklagte zu Recht verpflichtet hat, ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (i.d.F. des Gesetzes vom 19.8.2007, BGBl. I. S. 1970) bezüglich Serbiens festzustellen.

Die Klage ist zulässig, insbesondere besteht für sie auch jetzt noch ein Rechtsschutzbedürfnis, nachdem der Klägerin nach § 23 Abs. 1 AufenthG i.V.m. der Niedersächsischen Bleiberechtsregelung vom 6. Dezember 2006 (Nds. MBl. 2007, S. 43) eine bis zum 30. September 2007 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist und diese danach mutmaßlich nach § 23 AufenthG, hilfsweise nach § 104a AufenthG verlängert werden wird. Denn sowohl eine auf § 23 Abs. 1 AufenthG gestützte als auch eine nach § 104a AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis wird jeweils nur befristet und bei zumindest überwiegender Sicherung des Lebensunterhalts aus eigenen Mittel gewährt. Diese Form der Aufenthaltserlaubnis vermittelt der Klägerin also nur ein vorläufiges, unsicheres Aufenthaltsrecht. Die von ihr in diesem Verfahren begehrte Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entfaltet hingegen grundsätzlich Dauerwirkung, ist gemäß § 42 Abs. 1 AsylVfG für die Ausländerbehörde bis zu einer etwaigen bestandskräftigen Aufhebung durch das Bundesamt gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG bindend und führt daher gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG zwar ebenfalls "nur" zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, die aber aus den vorher genannten Gründen jedenfalls hier "dauerhafter" als eine solche nach §§ 23 oder 104 a AufenthG ist. Dies begründet ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis für die vorliegende Klage (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 - 1 C 5/01 -, BVerwGE 115, 1 ff., u.a. mit Bezugnahme auf OVG Münster, Urt. v. 28.6.2000 - 1 A 1462/96 -). Die demnach zulässige Klage ist auch begründet.

Voraussetzung für die von der Klägerin begehrte Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abt. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Serbiens ist zunächst, dass das Verfahren insoweit nach § 51 VwVfG wieder aufzugreifen ist bzw. wirksam vom Bundesamt wiederaufgegriffen worden ist.

Die Voraussetzungen des Verfahrens für einen - vorrangig - zu prüfenden Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG sind nicht gegeben. Die Klägerin beruft gemäß sich mit der von ihr geltend gemachten Erkrankung sinngemäß auf eine Änderung der Sachlage "zu ihren Gunsten" im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Nach den von ihr eingereichten Unterlagen befindet sie sich spätestens seit dem Juni 2002 in ambulanter Behandlung. Bereits im Mai 2003 hat ihr der behandelnde Facharzt Dr. ... bescheinigt, an einer rezidivierenden Depression mit häufig begleitenden Ängsten, zum Teil auch an Panikattacken zu leiden. Als Ursache führte er psychisch traumatisierende Erlebnisse im Rahmen des Kosovo-Krieges an. Diese Stellungnahme war "zur Vorlage bei der Ausländerbehörde" bestimmt. Sie nahm deshalb ausdrücklich zu etwaigen gesundheitlichen Folgen bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bzw. in das Kosovo Stellung. Spätestens ab Ausstellung dieser Bescheinigung hatte die Klägerin daher im Sinne des 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätte ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Wiederaufgreifensantrag jedoch viel später, nämlich erst im September 2004 und damit nach Ablauf der 3-Monats-Frist, beim Bundesamt eingereicht worden.

Ebenso wenig kann ein Anspruch auf Wiederaufgreifen erfolgreich auf § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG, d.h. auf das Vorliegen eines neuen Beweismittels, gestützt werden. Ein Beweismittel fällt nur dann in den Anwendungsbereich des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG, wenn es sich auf den im ersten Verfahren geltend gemachten Sachverhalt bezieht (vgl. GK-AsylVfG, § 71, Rn. 1341. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall, da von der Klägerin in ihrem vorhergehenden "Asylerstverfahren" und auch im Asylfolgeverfahren keine krankheitsbedingten Abschiebungshindernisse geltend gemacht worden sind.

Besteht somit zwar kein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG, d.h. auf ein sogenanntes Wiederaufgreifen im engeren Sinne, so steht dem betroffenen Ausländer aber darüber hinaus ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. § 49 Abs. 1 VwVfG zu. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. zum Folgenden Urt. v. 20.10.2004 - 1 C 15/03 -, BVerwGE 122, 103 ff.) ist in der hier zu beurteilenden Fallgestaltung von Amts wegen zu klären, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen oder nicht; bei der gerichtlichen Feststellung eines Ermessensfehlers darf nicht stehengeblieben und allein deshalb zur Neubescheidung verpflichtet werden.

Gemessen an diesen Vorgaben ist die Beklagte hier zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu verpflichten, weil sich die Klägerin krankheitsbedingt in einer "extremen individuellen Gefahrensituation" befinden würde und deshalb vorliegend das Ermessen der Beklagten zu Gunsten der Klägerin auf Null reduziert ist.

Nach dem Ergebnis der Berufungsverhandlung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass eine Rückkehr nach Serbien für die psychisch erkrankte Klägerin zu einer solchen Retraumatisierung und damit für sie zu einer "extremen individuellen Gefahrensituation" führen würde. Wie zutreffend in dem von der Klägerin vorgelegten Psychologisch-Psychotraumatologischen Fachgutachten vom 29. Januar 2007 (S. 49) und auch von dem gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. ... mit Schreiben vom 13. August 2007 (S. 13) dargelegt worden ist, muss der Erkrankte ein Trauma, d.h. ein Ereignis, erlebt oder beobachtet haben oder mit ihm konfrontiert gewesen sein, das tatsächlich den drohenden Tod, eine ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder für andere Personen beinhaltete; er muss dadurch intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen erfahren haben. Als eine solche Situation kommt grundsätzlich auch eine erlittene oder unmittelbar bevorstehende Vergewaltigung in Betracht. Der Senat ist insbesondere unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass sie im Juni 1993 im Kosovo einer solchen Situation ausgesetzt gewesen ist, wobei dahin stehen kann, ob es zu einer vollendeten Vergewaltigung gekommen oder der Geschehensablauf im Versuchsstadium geblieben ist. Denn bereits letzteres stellt für eine kosovo-albanische Frau eine schwerwiegende, grundlegende Tabuverletzung verbunden mit der Gefahr dar, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden (vgl. Mattern, Bedeutung der Tradition im heutigen Kosovo, S. 11 f., m.w.N.). Daraus erklärt sich für den Senat auch, warum die Klägerin bis zuletzt trotz wiederholter Andeutungen keine detaillierten Angaben zu dem im Juni 1993 erlebten Übergriff gemacht hat. Dem stehen die Ängste und die Scham der Klägerin vor den Folgen eines solchen Bekenntnisses in der durch traditionelle Konventionen geprägten Familie insbesondere ihres Ehemannes entgegen. Der Senat befindet sich insoweit auch in Übereinstimmung mit dem Fachgutachten vom 29. Januar 2007, in dem dieser - sinngemäß bereits in der Bescheinigung von Frau Dr. ... aus Bad Sachsa vom 23. Januar 2005 angeführte Grund (auf S. 45) ausdrücklich als eine mögliche Erklärung für das Verhalten der Klägerin benannt worden ist und dem sich auch der Sachverständige Dr. ... angeschlossen hat.

Bei dieser Sachlage befände sich die Klägerin - wie von den Diplom-Psychologen ... und Dr. ... am Schluss ihrer jeweiligen Gutachten beschrieben - bei einer Rückkehr in das Kosovo in einer aussichtslosen Lage. Auf Grund ihrer schweren Depression bedarf sie nicht nur sachkundiger medizinischer Hilfe, sondern vor allem der Unterstützung in ihrem sozialen und familiären Umfeld. Im Kosovo kann sie damit aber nicht rechnen, sondern muss im Gegenteil eher Ablehnung und Ausgrenzung befürchten. Die diesbezüglichen, sehr plausiblen Einlassungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung erschienen dem Senat absolut glaubhaft. Der Senat nimmt es der Klägerin daher auch ab, dass sie, wenn die Rückkehr unausweichlich wäre, ganz ernsthaft daran denken würde, aus dem Leben zu treten. Daher besteht für die Klägerin bei einer Rückkehr in das Kosovo ungeachtet der dortigen Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine "extreme individuelle Gefahrensituation".

In andere Landesteile von Serbien kann die Klägerin schon deshalb nicht ausweichen, weil dort ihre wirtschaftiche Existenzgrundlage nicht gesichert wäre (vgl. Senatsbeschl. v. 3.11.2005 - 8 LA 322/04 - InfAuslR 2006, 63 f. = ZAR 2006, 30 f. = EZAR-NF 51 Nr. 10).