VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 24.07.2007 - AN 1 K 07.30135 - asyl.net: M11717
https://www.asyl.net/rsdb/M11717
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Kurden aus der Türkei, der wegen exilpolitischer Betätigung in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten ist

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Rechtskraftwirkung, Änderung der Sachlage, Reformen, politische Entwicklung, Folter, exilpolitische Betätigung, PKK, Mesopotamisches Kulturzentrum, Verdacht der Unterstützung, Überwachung im Aufnahmeland, Streitwert
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RVG § 30 S. 1
Auszüge:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung eines Kurden aus der Türkei, der wegen exilpolitischer Betätigung in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten ist

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Dem Widerruf der mit Bescheid vom 17. August 2001 getroffenen Feststellung, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a. F. (hinsichtlich der Türkei) vorliegen, steht die Rechtskraft des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Juni 2001 - 11 B 99.32820 - entgegen.

Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet zwar, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich verändert - sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft (stRspr; vgl. BVerwG Urteil vom 23.11.1999 - 9 C 16.99, BVerwGE 110, 111; Urteil vom 24.11.1998 - 9 C 53.97, BVerwGE 108, 30; Urteil vom 8.12.1992 - 1 C 12.92. BVerwGE 91, 256; Urteil vom 4.6.1970 - 2 C 39.68, BVerwGE 35, 234; Beschluss vom 18.3.1982 - 1 WB 41.81. BVerwGE 73, 348; Urteil vom 30.8.1962 - 1 C 161.58, BVerwGE 14, 359).

Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben.

Es liegt auf der Hand, dass nicht jegliche nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Rechtskraftwirkung eines Urteils entfallen lässt (BVerwG, Beschluss vom 3.11.1993 - 4 NB 33.93, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 66 = NVwZRR 1994, 236; vgl. auch Clausing, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rn. 72). Gerade im Asylrecht liefe ansonsten die Rechtskraftwirkung nach § 121 VwGO weitgehend leer. Sofern es nämlich auf die allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers ankommt, sind diese naturgemäß ständigen Änderungen unterworfen. Eine Lösung der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann daher nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage entscheidungserheblich ist (BVerwG, Urteil vom 18.9.2001, a.a.O.; Urteil vom 8.12.1992, a.a.O.; Urteil vom 23.11.1999, a.a.O.; Beschluss vom 3.11.1993, a.a.O.; Urteil vom 4.6.1970, a.a.O.).

Dies ist jedenfalls im Asylrecht nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist.

Trotz der in den letzten Jahren durchgeführten Reformen in der Türkei, im Zuge derer am 1. Juni 2005 ein neues Strafgesetzbuch in Kraft getreten ist (vgl. im einzelnen die Darstellung im Lagebericht vom 11.11.2005), kann zur Überzeugung des erkennenden Gerichts nicht ausgeschlossen werden, dass die türkischen Behörden bei einer Rückkehr der Klägers in die Türkei dessen Funktion als stellvertretenden Vorsitzenden des Vorstands eines Vereins, welcher als Anlaufstelle der PKK und ihrer Nachfolgeorganisationen diente und diese Organisationen finanziell und logistisch unterstützt hat, zum Anlass nehmen werden, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einzuleiten. Ermittlungen und Verhöre, die Terrororganisationen wie die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen betreffen, werden für gewöhnlich von der Abteilung zur Bekämpfung des Terrors durchgeführt. Sollte der Kläger nach seiner Rückkehr oder auch erst in den nachfolgenden Wochen wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK festgenommen werden, so kann - ungeachtet der bereits umgesetzten Reformen in der Türkei - nicht ausgeschlossen werden, dass bei Verhören physischer oder psychischer Zwang eingesetzt wird (vgl. Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen und vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen).

Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. So sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis unterbleibt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 14.9.2006 - 11 LA 43/06; Urteil vom 18.7.2006 - 11 LB 264/05; OVG NRW, Urteil vom 14.2.2006 - 15 A 2202/00.A -; zu den Reformbemühungen und zur fortbestehenden Rückkehrgefährdung vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19.4.2005 - 8 A 273/04.A; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29.11.2004 - 3 L 66/00; vgl. auch Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen und vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg, S. 8; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen).

Die türkische Reformpolitik hat bislang nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen.

Von einer verfestigten und nachhaltigen Veränderung der Sicherheitslage in der Türkei als Voraussetzung für eine Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Juni 2001 kann bei dieser Auskunftslage somit (noch) nicht gesprochen werden (vgl. VG Düsseldorf, Urteile vom 24.1.2007 - 20 K 4697/05.A; vom 19.9.2006 - 26 K 3635/06.A, vom 28.6.2006 - 20 K 5937/04.A und vom 12.5. 2006 - 26 K 1715/06.A.; VG Berlin, Urteil vom 13.10.2006 - VG 36 X 67.06).

Der Gegenstandswert beträgt 1.500,EUR.

Aus dem Gesetzeswortlaut, der eindeutig und keiner anderen Auslegung fähig ist (vgl. zu den Grenzen der Auslegung eines Gesetzes: BVerwG, Urteil vom 29.6.1992 - 6 C 11.92, BVerwGE 90, 265, 269), folgt, dass der Gegenstandswert nur dann auf 3.000,- EUR festzusetzen ist, wenn - anders als im vorliegenden Fall - der Rechtsstreit (zumindest auch) die Asylanerkennung betrifft. Ist dies nicht der Fall, liegt ein sonstiges Klageverfahren im Sinne des § 30 Satz 1 Halbsatz 2 RVG mit einem Gegenstandswert von 1.500,00 EUR vor.

Zwar hat der Gesetzgeber mit dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz (BGBl I, S. 1950) den Status des Asylberechtigten (Art. 16 a GG) und den Status als anerkannter Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) weitgehend einander angeglichen. Jedoch hat der Gesetzgeber hieraus - bezogen auf den Gegenstandswert - keine weiteren Konsequenzen gezogen, obwohl er § 30 Abs. 1 RVG mit Gesetz vom 22. Dezember 2006 (BGBl I., S 3416) geändert, nämlich den Passus "§ 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes" durch "§ 60 des Aufenthaltsgesetzes" ersetzt hat. Dies kann nur dahingehend verstanden werden, dass es der Gesetzgeber hinsichtlich des Gegenstandswertes bei der bisherigen Regelung und deren Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht (vgl. Beschluss vom 20.1.1994 - 9 B 15.94, DÖV 1994, 537) belassen wollte (ebenso: OVG Münster, Beschlüsse vom 4.12.2006 - 9 A 4128/06.A und vom 14.2.2007 - 9 A 4126/06.A; VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 26.1.2007 - 8 J 5863/06.A(1); VG Karlsruhe, Beschluss vom 9.3.2007 - A 7 10897/05; VG Aachen,

Beschluss vom 26.3.2007 - 7 K 1621/05.A; VG Göttingen, Beschluss vom 26.3.2007 - 2 A 88/05; VG Oldenburg, Beschluss vom 26.3.2007 - 4 A 3057/05; VG Köln, Beschluss vom 28.3.2007 - 4 K 5023/05.A; VG Ansbach, Beschluss vom 28.3.2007 - AN 18 K 05.30424; VG Düsseldorf, Beschluss vom 11.4.2007 - 26 K 6088/06.A; VG Minden, Beschluss vom 23.4.2007 - 10 K 2565/06.A; VG Würzburg, Beschluss vom 2.5.2007 - W 7 M 07.30084; a.A.: BVerwG, Beschluss vom 21.12.2006 - 1 C 29.03; BayVGH, Beschlüsse vom 12.2.2007 - 23 B 06.30694 und vom 16.5.2007 - 23 ZB 07.30075; OVG Koblenz, Beschluss vom 15.12.2006 - 10 A 10785/05.OVG; VG Magdeburg, Beschluss vom 12.2.2007 - 8 A 497/98 MD; VG Mainz, Beschluss vom 12.3.2007 - 4 K 481/05.MZ; VG Stade, Beschluss vom 12.3.2007 - 4 A 1938/05; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 26.3.2007 14a 1885/06.A).