VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 11.07.2007 - M 7 K 05.4919 - asyl.net: M11745
https://www.asyl.net/rsdb/M11745
Leitsatz:

Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie ist nicht auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Regelausweisung, Körperverletzung, besonderer Ausweisungsschutz, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Fortgeltungsfiktion, Inhaftierung, Haft, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Ermessen, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Verhältnismäßigkeit, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Europäisches Niederlassungsabkommen, Unionsbürgerrichtlinie, Besserstellungsverbot
Normen: AufenthG § 54 Nr. 1; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; AufenthG § 81 Abs. 4; ARB Nr. 1/80 Art. 14; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; ENA Art. 3; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3
Auszüge:

Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie ist nicht auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist unbegründet, da die Ausweisung des Klägers der rechtlichen Prüfung stand hält.

Nach nationalem Recht konnte die Beklagte den Kläger grundsätzlich gemäß § 54 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz ausweisen.

Dem Kläger steht entgegen den Ausführungen im Bescheid vom ... September 2005, ein besonderer Ausweisungsschutz nach nationalem Recht (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) nicht zur Seite. Unabhängig davon, ob der Kläger sich für fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, hatte er zumindest im Zeitpunkt des Bescheidserlasses keine Aufenthaltserlaubnis mehr. Diese lief am ... Juni 2005 ab. Ein Antrag auf Verlängerung war nicht gestellt worden. Der Umstand, dass der Kläger kurze Zeit später inhaftiert wurde (... Juni 2005), ändert hieran nichts. Zum einen ist bereits nicht ersichtlich, dass der Kläger aufgrund der Inhaftierung von der Stellung eines Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgehalten worden sein könnte (vgl. BayVGH v. 30.6.2006, Az.: 24 CS 06.1249). Zum anderen erfolgte die Inhaftierung (... 6.2006) erst nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis. Gründe, wieso der Kläger nicht bereits vor diesem Zeitpunkt und damit vor der Inhaftierung einen Verlängerungsantrag gestellt hat, sind weder ersichtlich noch wurden sie vorgetragen. Im Übrigen würde auch ein rechtzeitig gestellter Antrag nichts am Fehlen der Aufenthaltserlaubnis ändern, da nach gefestigter Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs eine sogenannte Fortgeltungsfiktion (§ 81 Abs. 4 AufenthG) keinen Aufenthaltstitel im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG darstellt (vgl. BayVGH v. 18.9.2006, Az.: 19 CS 06.1713, 19 C 06.1712, 19 C 06.1711 m.w.N.).

Ob der Kläger vorliegend über ein aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) abgeleitetes Aufenthaltsrecht verfügt, kann letztendlich dahinstehen, da der Kläger auch in diesem Fall ausgewiesen werden konnte (Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80).

Verfügt ein Ausländer über ein aus Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht, so kann er nur nach Maßgabe des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 aufgrund einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden, wobei für die gerichtliche Überprüfung einer solchen Ausweisung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzen mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts abzustellen ist (vgl. EuGH v. 11.11.2004, Rs. C467/02; BVerwG v. 3.8.2004, Az.: 1 C 29.02). Die Ausweisung ist nur aus spezialpräventiven Gründen zulässig. Erforderlich ist, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und dass gerade der Ausländer durch sein persönliches Verhalten Anlass zur Ausweisung gibt. Ob dies der Fall ist, muss unter Würdigung von Art und Schwere der Straftat und der Persönlichkeit des Täters in jedem Einzelfall geprüft werden. Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen dürfen danach nicht allzu gering bemessen werden. Darüber hinaus ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist. Zu berücksichtigen sind insoweit Art und Schwere der vom Betroffenen begangenen Straftat, die Dauer seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, die Zeit, die seit der Begehung der Straftat verstrichen ist, die familiäre Situation des Betroffenen und das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen sein Ehegatte und die möglicherweise vorhandenen Kinder im Herkunftsland des Betroffenen begegnen könnten.

Gemessen an diesen Grundsätzen hat die Beklagte zu Recht eine tatsächlich und hinreichend schwere Gefährdung bejaht. Im für den nach nationalem Recht maßgebenden Zeitpunkt der letzen Behördenentscheidung lag die erforderliche Wiederholungsgefahr vor.

Die Ausweisung entspricht auch unter Beachtung der persönlichen Umstände des Klägers dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Der Kläger ist 1969 in der Türkei geboren und dort aufgewachsen. Er reiste erstmalig im Alter von 24 Jahren in die Bundesrepublik ein. Er beherrscht damit seine Muttersprache. Seit dem ... August 1995 lebt der Kläger im Bundesgebiet. In den Jahren 2002, 2003 und 2004 reiste er ausweislich der sich in seinem Nationalpass befindlichen Stempel in sein Heimatland. Eine völlige Entfremdung von seinem Heimatland hat demnach nicht stattgefunden. Der Kläger hat sich auch wirtschaftlich nicht integriert. Er war zwar immer wieder berufstätig. Allerdings hat er seinen Arbeitsplatz häufig gewechselt und war zeitweise arbeitslos. Zugleich fehlt es an einer abgeschlossenen Schulausbildung sowie an einer beruflichen Ausbildung. Angesichts dieser Umstände ist es dem Kläger zuzumuten in sein Heimatland zurückzukehren und sich dort ein neues Leben aufzubauen.

Ebenso führt die Lebensgemeinschaft mit seiner türkischen Ehefrau und seiner Tochter nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung. Hieran ändert sich vorliegend auch dadurch nichts, dass die Ehefrau eine Niederlassungserlaubnis hat und die gemeinsame Tochter in der Bundesrepublik Deutschland geboren ist. Der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie gebietet es nicht schlechthin, jegliche Belastung von einer Familie fernzuhalten. Im Aufenthaltsrecht gibt dieser Schutz schon nicht dem ausländischen Ehegatten eines deutschen Staatsangehörigen die Gewissheit, in keinem Fall ausgewiesen und abgeschoben zu werden (BVerfGE 51, 386/396). Erst Recht gilt dies, wenn beide Ehegatten und auch die gemeinsamen, im Bundesgebiet lebenden Kindern dieselbe ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG greift nur in derartigen Fällen dann ein, wenn die Folgen der Ausweisung für den Betroffenen mit Rücksicht auf seinen Ehegatten unverhältnismäßig hart wären. Weiterhin ist auch der Vertrauensschutz zu berücksichtigen, soweit das zu schützende Vertrauen sich gerade auf eheliche oder familiäre Umstände bezieht (BVerfG v. 19.8.1983, Az.: 2 BvR 1284/83). Die Trennung als solche begründet dabei die besondere Härte nicht, weil sie typische Folgen der Ausweisung ist, bei der die Angehörigen des Ausländers im Bundesgebiet zurückbleiben. Liegen die Voraussetzungen von § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG vor, ohne dass der besondere Ausweisungsschutz gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 3 oder 4 AufenthG eingreift, so ist grundsätzlich davon auszugehen, dass dem Ehegatten und den Kindern des ausgewiesenen Ausländers im Interesse der Fortführung der ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft die Rückkehr in ein gemeinsames Herkunftsland zuzumuten ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 RdNr. 116).

Angesichts dieser Umstände führt die Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner Ehefrau und seiner Tochter nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung. Das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiegt das Interesse am Fortbestand der Lebensgemeinschaft mit der Ehefrau und dem Kind. Zu berücksichtigen war hierbei neben der Art und Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten, dass ihn weder seine Familie noch die ausländerrechtlichen Verwarnungen oder die Bewährungsstrafe von der Begehung weiterer Straftaten abhalten konnten.

Gleiches gilt im Hinblick auf das Verhältnis des Klägers zu seiner Tochter. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (v. 23.1.2006, Az.: 2 BvR 1935/05, v. 30.1.2002, Az.: 2 BvR 231/00 und v. 8.12.2005, Az.: 2 BvR 1001/04) kommt dem Vater-Kind-Verhältnis eine eigenständige Bedeutung zu. Zu prüfen ist dabei, ob der Aufenthaltsbeendigung eine tatsächlich bestehende persönliche Verbundenheit, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist, entgegensteht. Entscheidendes Kriterium für die Zumutbarkeit einer Trennung sowie der Möglichkeit, über Briefe, Telefonate und Besuche aus dem Ausland Kontakt zu halten, ist das Alter des Kindes (vgl. BVerfG v. 8.12.2005, Az.: 2 BvR 1001/04). Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht aber auch darauf hingewiesen, dass den gewichtigen familiären Belangen gegenläufige öffentliche Interessen entgegenstehen können, die eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen können (BVerfG v. 23.1.2006, Az.: 2 BvR 1935/05). Gemessen hieran ist auch im Hinblick auf die eigenständige Bedeutung des Vater-Kind-Verhältnisses nicht von einer unzumutbaren Trennung auszugehen. Die Tochter ist zwischenzeitlich zehn Jahre alt.

Auch Art. 8 EMRK führt zu keinem anderen Ergebnis.

Soweit dem Kläger der Schutz aus Art. 3 Abs. 3 ENA zur Seite steht, geht dieser nicht über Art. 14 ARB 1/80 hinaus, so dass insoweit ebenfalls auf das oben gesagte verwiesen werden kann (BVerwG v. 10.2.1995, InfAuslR 1995, 273).

Der Kläger kann sich im Übrigen auch nicht darauf berufen, dass die Ausweisung wegen einer entsprechenden Anwendung des Art. 28 der Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38) rechtswidrig ist. Art. 28 Abs. 3 a der Richtlinie 2004/38/EG ist auf assoziationsberechtigte Türken nicht anwendbar (BayVGH v. 9.3.2007, Az.: 19 ZB 06.3104; VG Ansbach v. 13.11.2006, Az.: AN 5 S 06.03273; OVG Nordrhein-Westfalen v. 15.5.2007, Az.: 18 B 2389/06; OVG Niedersachsens v. 6.6.2005 Az.: 11 ME 39/05; VG Düsseldorf v. 10.2.2006, Az.: 24 L 2122/05; Hailbronner, Band 4, D 5.2., Art. 14 ARB 1/80 RdNr. 11ff.; a. A. VG München v. 28.9.2006, Az.:M12 K 06.1195; Hessischer VGH v. 12.7.2006, Az.: 12 TG 494/06; OVG Rheinland-Pfalz v. 15.12.2006, Az.: 7 A 10924/06; VG Karlsruhe v. 9.11.2006, Az.: 2 K 1559/06; VG Oldenburg v. 16.5.2007, Az.: 11 A 3898/05).