VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 11.07.2007 - 24 ZB 07.743 - asyl.net: M11747
https://www.asyl.net/rsdb/M11747
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, EGMR, Integration, Aufenthaltsdauer, Situation bei Rückkehr
Normen: EMRK Art. 8
Auszüge:

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung wegen der geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind nicht gegeben.

Auch soweit sich der Kläger darauf beruft, er sei faktischer Inländer, begegnet die angefochtene Entscheidung keinen ernstlichen Zweifeln. Das Verwaltungsgericht hat nicht nur den besonderen Ausweisungsschutz des Klägers nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG berücksichtigt, sondern auch darüber hinaus die Verhältnismäßigkeit seiner Ausweisung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK mit Recht bejaht (vgl. dazu BVerfG vom 10.5.2007 Az. 2 BvR 304/07). Für die Richtigkeit des Ergebnisses dieser Prüfung spielt es keine Rolle, ob der Kläger begrifflich vom Verwaltungsgericht zu Recht nicht als "faktischer Inländer" eingeordnet wurde. Die Ausweisung eines Ausländers kann unter gewissen Umständen einen Eingriff in das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Privat- und Familienleben bewirken, und zwar vor allem dann, wenn der Betroffene im Aufenthaltsstaat über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt (vgl. EGMR vom 16.6.2005 InfAuslR 2005, 349 "Sisojeva"). Dies kommt insbesondere bei Ausländern in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falls ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist (BVerwG vom 29.9.1998 NVwZ 1999, 303/305). Als faktische Inländer werden vor allem die im betreffenden Vertragsstaat geborenen Ausländer der zweiten Generation angesehen; die hierfür in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten Grundsätze wurden allerdings bereits auch in einem Fall angewandt, in dem der Ausländer in relativ jungem Alter (von 10 Jahren) nach Deutschland kam und bereits seit 27 Jahren in Deutschland lebte (EGMR vom 27.10.2005 InfAuslR 2006, 3 – "Keles" –; vgl. auch BayVGH vom 3.1.2007 Az. 24 CS 06.2634). Der bloße langjährige Aufenthalt in Deutschland allein macht einen Ausländer jedoch noch nicht zu einem faktischen Inländer. Hinzu kommen muss eine Verwurzelung in das hiesige Leben (vgl. § 43 Abs. 1 AufenthG). Maßgeblich ist insoweit zum einen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung in das hiesige wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben aufgrund seiner deutschen Sprachkenntnisse, sozialen Kontakte, Wohn-, Wirtschafts- sowie Berufs- bzw. Schulverhältnisse, einschließlich einer Berufs- und Hochschulausbildung, faktisch erfolgreich integriert ist. Auf der anderen Seite ist zu fragen, inwieweit der Ausländer – wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung – von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist. Gesichtspunkte sind diesbezüglich vor allem, inwieweit Kenntnisse der dort gesprochenen Sprache bestehen bzw. erworben werden können, inwieweit der Ausländer mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist und inwieweit er dort bei der (Wieder-) Eingliederung auf Hilfestellung durch Verwandte und sonstige Dritte rechnen kann, soweit dies erforderlich sein sollte (Benassi, InfAuslR 2006, 397/402 m.w.N.; vgl. auch Bergmann, ZAR 2007, 128/131; Marx, ZAR 2006, 261/267). Denkbar sind auch Fälle, in denen ein Ausländer eher zufällig eine andere Staatsangehörigkeit besitzt (vgl. BayVGH vom 25.10.2000 InfAuslR 2001, 123/124). Vor diesem Hintergrund ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts, den Kläger nicht als faktischen Inländer anzusehen, da er sich nicht erfolgreich in die deutschen Lebensverhältnisse integrieren konnte und da seiner Reintegration in Kroatien jedenfalls keine unüberwindlichen Hindernisse entgegenstehen, nicht zu beanstanden. Darüber hinaus geht das Verwaltungsgericht auch zu Recht davon aus, dass die Ausweisung des Klägers, wenn man sie als Eingriff in sein Privatleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK wertet, eine verhältnismäßige und notwendige Maßnahme zur Gefahrenabwehr im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK darstellt.