OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29.08.2007 - 1 A 10074/06.OVG - asyl.net: M11811
https://www.asyl.net/rsdb/M11811
Leitsatz:

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i. S. von § 3 Abs. 1 AsylVfG (n.F.) kann in einem Asylfolgeverfahren gemäß § 28 Abs. 2 AsylVfG (n.F.) ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalles die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass die von dem Ausländer nach der Rücknahme oder der unanfechtbaren Ablehnung eines Asylantrages selbst geschaffenen Umstände, sofern sie nicht Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind, auf einer ernsthaften inneren Überzeugung beruhen und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer die von ihm entfalteten Aktivitäten einzig allein hauptsächlich aufgenommen hat, um die für die Zuerkennung des begehrten Schutzstatus erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen.

Die nach § 28 Abs. 2 AsylVfG (n.F.) mögliche Ausnahme ist nicht auf die Fälle beschränkt, die in § 28 Abs. 1a AsylVfG (n.F.) umschrieben werden.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Folgeantrag, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, atypischer Ausnahmefall, Genfer Flüchtlingskonvention, Anerkennungsrichtlinie
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; AsylVfg § 28 Abs. 1a; GFK Art. 33; RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 3
Auszüge:

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i. S. von § 3 Abs. 1 AsylVfG (n.F.) kann in einem Asylfolgeverfahren gemäß § 28 Abs. 2 AsylVfG (n.F.) ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalles die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass die von dem Ausländer nach der Rücknahme oder der unanfechtbaren Ablehnung eines Asylantrages selbst geschaffenen Umstände, sofern sie nicht Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind, auf einer ernsthaften inneren Überzeugung beruhen und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer die von ihm entfalteten Aktivitäten einzig allein hauptsächlich aufgenommen hat, um die für die Zuerkennung des begehrten Schutzstatus erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen.

Die nach § 28 Abs. 2 AsylVfG (n.F.) mögliche Ausnahme ist nicht auf die Fälle beschränkt, die in § 28 Abs. 1a AsylVfG (n.F.) umschrieben werden.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet.

Der Kläger hat nämlich einen Anspruch auf die von ihm begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Im vorliegenden Verfahren streiten die Beteiligten darüber, ob die von dem Kläger in dem Asylfolgeverfahren vorgetragenen Wiederaufgreifensgründe die Verpflichtung der Beklagten begründen, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Nach § 28 Abs. 2 AsylVfG kann die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft "in der Regel" allerdings dann nicht erfolgen, wenn der Folgeantrag mit Umständen begründet wird, die der Asylbewerber nach unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrages selbst geschaffen hat. Ob hier ein Regelfall oder ein Ausnahmefall i.S. der genannten Vorschrift vorliegt, ist zwischen den Beteiligten streitig.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist allerdings davon auszugehen, dass § 28 Abs. 2 AsylVfG in seiner nunmehr geltenden Fassung wie auch schon in seiner zuvor geltenden Fassung sowohl mit Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention als auch mit der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie) vereinbar ist.

Die hier zu beantwortenden Fragen knüpfen daran an, dass der Gesetzgeber festgelegt hat, dass selbst geschaffene Nachfluchtgründe "in der Regel" die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht rechtfertigen können. Die Vorschrift geht also von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis aus. Weder ihrem Wortlaut noch den amtlichen Begründungen zu der ersten Fassung und zu der Neufassung lässt sich indessen eindeutig entnehmen, an welche Ausnahmesituationen der Gesetzgeber hierbei gedacht hat und ob er den von ihm nicht ausgeschlossenen Ausnahmefall auf bestimmte, abschließend festlegbare Situationen hat beschränken wollen.

Der neu geschaffene § 28 Abs. 1 a AsylVfG, der zusammen mit dem neu formulierten Abs. 2 der Vorschrift nach dem Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsund asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 den bisherigen § 28 Abs. 2 AsylVfG ersetzen soll (so Art. 3 Nr. 21 des Gesetzes vom 19. August 2007), verschärft allerdings entgegen der von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung die Anforderungen nicht, die erfüllt sein müssen, damit die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann, gegenüber den Anforderungen, die für die Anerkennung als Asylberechtigte nach § 28 Abs. 1 AsylVfG erfüllt sein müssen, sofern der Asylantrag auf selbst geschaffene Nachfluchtgründe gestützt wird. An den Anforderungen des § 28 Abs. 1 AsylVfG hatte sich die Beklagte bei ihrer Entscheidung vom 26. April 2005 orientiert. Darauf stellt sie auch im Berufungsverfahren ab. Während § 28 Abs. 1 AsylVfG - an den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. November 1986 (BVerfGE 74, 51 ff.) anknüpfend - für die Anerkennung als Asylberechtigten zur Voraussetzung macht, dass die von dem Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland entfalteten Aktivitäten einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entsprechen müssen, ist nach § 28 Abs. 1 a AsylVfG n.F. – lediglich – erforderlich, dass die selbst geschaffenen Nachfluchtgründe Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind, was nicht ohne weiteres mit den Anforderungen des § 28 Abs. 1 AsylVfG gleichgesetzt werden kann. Gemeinsam ist beiden Bestimmungen lediglich, dass auf eine bereits im Heimatland bestehende Überzeugung oder Ausrichtung abgestellt wird, der Asylbewerber hierzu also nicht erst in der Bundesrepublik Deutschland gelangt sein kann.

Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob die von dem Kläger geschilderten Umstände, auf die er seinen Asylfolgeantrag stützt, gleichwohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausnahmsweise ermöglichen. Das ist zur Überzeugung des Senates aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalles zu bejahen.

Zu der bisher geltenden Fassung des § 28 Abs. 2 AsylVfG, die ausdrücklich auf § 28 Abs. 1 AsylVfG Bezug nahm, hatte sich zwar inzwischen eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung herausgebildet. Auf die nunmehr geltende Fassung des § 28 Abs. 2 AsylVfG ist sie aber nicht ohne weiteres übertragbar.

In der jetzt geltenden Fassung, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft regelt – was nichts anderes ist als die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind, wie sich aus dem neu gefassten § 3 Abs. 1 AsylVfG sowie aus dem neu gefassten § 13 Abs. 2 AsylVfG ergibt - knüpft der Gesetzgeber ausdrücklich an Art. 5 Abs. 3 der sog. Qualifikationsrichtlinie an, der eine eigenständige Regelung darstellt neben Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie, dem der neu eingefügte § 28 Abs. 1 a AsylVfG entspricht. Die in ihrem Wortlaut sich nunmehr - weitestgehend – deckenden Regelungen des Art. 5 Abs. 2 und 3 der Qualifikationsrichtlinie und des § 28 Abs. 1 a und Abs. 2 AsylVfG stehen indessen nebeneinander und sind nicht durch ihre Formulierung dergestalt miteinander verknüpft, dass die Ausnahme von dem "Regelfall" des § 28 Abs. 2 AsylVfG bzw. des Art. 5 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie, der nach der amtlichen Begründung zu der Neufassung durch diese ausdrücklich umgesetzt werden sollte, nur der Fall sein sollte, der in § 28 Abs. 1 a AsylVfG bzw. Art. 5 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie umschrieben ist. Wenn der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 28 AsylVfG indes tatsächlich die Ausnahme von dem "Regelfall" des neu geschaffenen § 28 Abs. 2 AsylVfG nur für den Fall hätte zubilligen wollen, dass die Voraussetzungen des neu geschaffenen Abs. 1 a der Vorschrift erfüllt sind, dann hätte es angesichts der in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und in der Kommentarliteratur geführten Diskussion sowie vor dem Hintergrund, dass das Bundesverwaltungsgericht zur Klärung dieser Fragen durch Beschluss vom 4. Januar 2007 (1 B 237.06) ausdrücklich die Revision zugelassen hatte, allerdings nahe gelegen, eine diese Fragen im Sinne der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung klärende Gesetzesformulierung zu wählen. Das ist jedoch nicht geschehen. Das legt zur Überzeugung des Senats den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber die nach § 28 Abs. 2 AsylVfG denkbaren Ausnahmen nicht auf die Fallgestaltungen hat beschränken wollen, in denen die geltend gemachten Nachfluchtgründe an eine bereits im Heimatland bestehende Überzeugung anknüpfen.

Auch die amtliche Begründung zu der ursprünglichen Fassung des § 28 Abs. 2 AsylVfG (BT-Drucks. 15/420 [109 f.]), auf die zurückzugreifen ist, weil die amtliche Begründung zur Neufassung der Vorschrift insoweit keine neuen Hinweise gibt, zwingt nicht zu einer derartigen beschränkenden Auslegung der Vorschrift. Daraus ist nämlich lediglich die Zielsetzung des Gesetzgebers zu entnehmen, durch die Neuregelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG, nach der künftig die Zuerkennung des sog. "kleinen Asyls" regelmäßig ausgeschlossen werden sollte, abgelehnten Asylbewerbern den Anreiz zu nehmen, durch neu geschaffene Nachfluchtgründe ein weiteres Asylverfahren betreiben zu können und dadurch einen dauerhaften Aufenthalt zu erreichen. Nach der daraus ablesbaren Zielsetzung wendete sich der seinerzeit neu geschaffene § 28 Abs. 2 AsylVfG also gegen diejenigen – im Erstverfahren erfolglosen – Asylbewerber, die aus taktischen Erwägungen erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Erstverfahrens Aktivitäten entfalteten, um hierauf gestützt ein Asylfolgeverfahren betreiben und damit einen dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erreichen zu können. Der Gesetzgeber wollte so einen allgemein gesehenen und beklagten Missbrauch abstellen.

Mit dieser Zielsetzung befand sich der Gesetzgeber im Übrigen im Einklang mit den durch die Qualifikationsrichtlinie eröffneten Differenzierungsmöglichkeiten, wie sie sich aus dem bereits erwähnten Art. 20 Abs. 7 der Qualifikationsrichtlinie ergeben, der den Mitgliedsstaaten ausdrücklich eine Einschränkung des Schutzstatus in den Fällen ermöglicht, in denen die von dem Asylbewerber entfalteten Aktivitäten einzig und hauptsächlich deshalb aufgenommen werden, um die für die Zuerkennung des Schutzstatus erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen. Angesichts dessen und mit Blick auf die in der nunmehr geltenden Fassung des § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht mehr enthaltene Bezugnahme auf Abs. 1 der Vorschrift hat der Gesetzgeber ersichtlich die nach § 28 Abs. 2 AsylVfG denkbaren Ausnahmen, in denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden darf, nicht auf die Fälle beschränken wollen, in denen die Voraussetzungen des Abs. 1a der Vorschrift vorliegen, sondern, wie auch durch die Qualifikationsrichtlinie ermöglicht, den von ihm gesehenen Missbrauch unterbinden wollen. Daher ist eine ausnahmsweise Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 28 Abs. 2 AsylVfG – neben den Fällen des § 28 Abs. 1a AsylVfG - ausnahmsweise auch dann zulässig, wenn die geltend gemachten Nachfluchtaktivitäten zwar nicht § 28 Abs. 1a AsylVfG entsprechen, jedoch ein bloß asyltaktisches und damit missbräuchliches Verhalten des Folgeantragtragstellers aufgrund der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls auszuschließen ist, wie dies auch bislang schon in der Kommentarliteratur vertreten worden ist (vgl. Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz § 28 Rn. 49.1; Renner, a.a.O., § 28 AsylVfG Rdnr. 22). So liegt der Fall hier.