VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 26.06.2007 - 8 UZ 1463/06.A - asyl.net: M11813
https://www.asyl.net/rsdb/M11813
Leitsatz:

1. Aus der Notwendigkeit der gerichtlichen Überzeugungsbildung über eine geltend gemachte Verfolgungsgefährdung wegen eines in Deutschland erfolgten Glaubenswechsels vom Islam zum Christentum ergibt sich das Erfordernis der Prüfung, ob der Glaubenswechsel auf einem inneren Bedürfnis oder auf asyltaktischen Erwägungen beruhte, denn nur bei einer ernsthaften Gewissensentscheidung ist einem schutzsuchenden Ausländer ein Verschweigen, Verleugnen oder gar die Aufgabe der neuen Glaubensüberzeugung zur Vermeidung von Repressionen im Heimatland nicht zuzumuten, weil ihm das "religiöse Existenzminimum" entzogen würde und er in eine auswegslose Lage geriete.

2. Auf eine ernsthafte Gewissensentscheidung kommt es nur dann nicht an, wenn schon allein der in Deutschland formal vollzogene Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben mit der hier ausgeübten Glaubensbetätigung im islamischen Heimatland des Schutzsuchenden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit selbst dann zu erheblichen Verfolgungsmaßnahmen führt, wenn er dort den christlichen Glauben verheimlicht, verleugnet oder aufgibt.

 

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Rechtsschutzbedürfnis, Religion, Religionsfreiheit, Apostasie, Konversion, Christen, Nachfluchtgründe, Afghanistan, Überwachung im Aufnahmeland, Sachaufklärungspflicht
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 60 Abs. 2 - 7
Auszüge:

1. Aus der Notwendigkeit der gerichtlichen Überzeugungsbildung über eine geltend gemachte Verfolgungsgefährdung wegen eines in Deutschland erfolgten Glaubenswechsels vom Islam zum Christentum ergibt sich das Erfordernis der Prüfung, ob der Glaubenswechsel auf einem inneren Bedürfnis oder auf asyltaktischen Erwägungen beruhte, denn nur bei einer ernsthaften Gewissensentscheidung ist einem schutzsuchenden Ausländer ein Verschweigen, Verleugnen oder gar die Aufgabe der neuen Glaubensüberzeugung zur Vermeidung von Repressionen im Heimatland nicht zuzumuten, weil ihm das "religiöse Existenzminimum" entzogen würde und er in eine auswegslose Lage geriete.

2. Auf eine ernsthafte Gewissensentscheidung kommt es nur dann nicht an, wenn schon allein der in Deutschland formal vollzogene Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben mit der hier ausgeübten Glaubensbetätigung im islamischen Heimatland des Schutzsuchenden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit selbst dann zu erheblichen Verfolgungsmaßnahmen führt, wenn er dort den christlichen Glauben verheimlicht, verleugnet oder aufgibt.

(Amtliche Leitsätze)

 

Der noch innerhalb der Zwei-Wochen-Frist gemäß § 78 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AsylVfG am 20. Juni 2006 beim Verwaltungsgericht eingegangene Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das seiner damaligen Verfahrensbevollmächtigten am 6. Juni 2006 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 4. Mai 2006 ist abzulehnen.

Es ist schon fraglich, ob es an der Entscheidungserheblichkeit dieser beiden Fragen fehlt, weil dem Kläger mit Bescheid vom 12. Oktober 1998 ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 6 AuslG (heute: § 60 Abs. 7 AufenthG) bestandskräftig zugesprochen worden ist und deshalb für seine auf Feststellung eines weiteren Abschiebungsverbotes gerichtete Klage kein Rechtsschutzbedürfnis bestehen könnte. Wegen der seit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 bestehenden Gleichbehandlung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in § 25 Abs. 3 und § 59 Abs. 3 AufenthG dürfte das früher angenommene Rangverhältnis zwischen den Abschiebungsverboten nicht mehr anzunehmen sein, so dass bei Vorliegen eines Abschiebungsverbotes (hier: § 60 Abs. 7 AufenthG) die Prüfung eines weiteren Abschiebungsverbotes (hier: § 60 Abs. 2 und 5 AufenthG) nicht mehr erforderlich wäre (vgl. VG Aachen, Urteil vom 19. Dezember 2005 – 6 K 684/03.A – juris Rdnrn. 16 und 18; VG Ansbach, Beschluss vom 22. Dezember 2005 – AN 15 S 05.31536 – juris Rdnr. 13; vgl. jedoch auch BVerwG, Urteil vom 21. November 2006 – 1 C 10/06 – NVwZ 2007 S. 465 ff. = InfAuslR 2007 S. 213 ff. = juris Rdnr. 12).

Diese Frage der Entscheidungserheblichkeit kann jedoch letztlich offen bleiben, denn der Kläger hat jedenfalls die Klärungsbedürftigkeit der von ihm aufgeworfenen Fragen nicht im obigen Sinne hinreichend dargelegt.

Die unter 2. aufgeworfene Frage ist vom Verwaltungsgericht ausweislich der vorgenommenen Prüfung auf den Seiten 6 bis 8 der angefochtenen Entscheidung (zunächst) dahin beantwortet worden, dass bei einer geltend gemachten Verfolgungsgefährdung wegen eines in Deutschland erfolgten Glaubenswechsels vom Islam zum Christentum maßgeblich darauf abzustellen ist, ob dies auf einem inneren Bedürfnis oder auf asyltaktischen Erwägungen beruhte. Dieses Prüfungserfordernis ergibt sich – ohne dass es dazu der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedürfte – aus der Notwendigkeit der gerichtlichen Überzeugungsbildung über die für den Fall der Rückkehr des konvertierten Ausländers in sein Heimatland geltend gemachte religiöse Verfolgungsgefährdung. Denn nur wenn verlässlich festgestellt werden kann, dass die Konversion auf einer glaubhaften Zuwendung zum christlichen Glauben im Sinne einer ernsthaften Gewissensentscheidung, auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht, kann – wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat – davon ausgegangen werden, dass ein Verschweigen, Verleugnen oder gar die Aufgabe der neuen Glaubensüberzeugung zur Vermeidung staatlicher oder nichtstaatlicher Repressionen im Heimatland den Betroffenen grundsätzlich und in aller Regel unter Verletzung seiner Menschenwürde existenziell und in seiner sittlichen Person treffen und in eine ausweglose Lage bringen würde und ihm deshalb nicht zuzumuten ist (zweifelnd BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Dezember 1994 – 2 BvR 1426/91 - InfAuslR 1995 S. 210 f. = juris Rdnrn. 13 f.; vgl. aber auch BVerwG, Urteile vom 18. Februar 1986 – 9 C 16/85 – BVerwGE 74 S. 31 [38] = juris Rdnr. 21 und vom 20. Januar 2004 – 1 C 9/03 – BVerwGE 120 S. 16 ff. = InfAuslR 2004 S. 319 ff.. = NVwZ 2004 S. 1000 ff. = juris Rdnr. 12). Nur bei einem in diesem Sinne ernsthaften Glaubenswechsel könnte das Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass der schutzsuchende Ausländer bei einer Rückkehr in sein islamisches Heimatland von seiner neuen christlichen Glaubensüberzeugung nicht ablassen könnte und deshalb in eine auswegslose Lage geriete (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2006 – 22 K 350/05.A – juris Rdnr. 63). Es entspricht deshalb verwaltungsgerichtlicher Praxis, bei einer geltend gemachten Verfolgungsgefährdung wegen eines in Deutschland erfolgten Glaubenswechsels umfassend und erschöpfend zu prüfen, ob der schutzsuchende Ausländer nicht nur formal, sondern auch seiner inneren Überzeugung nach seiner neuen, im Heimatland von Verfolgung bedrohten Religion verbunden ist (vgl. u. a. beispielhaft: VG Düsseldorf, Urteile vom 15. August 2006 a.a.O. juris Rdnrn. 61 f. und vom 29. August 2006 – 2 K 3001/06.A – juris Rdnrn. 37 ff.; VG Meiningen, Urteil vom 10. Januar 2007 – 5 K 20256/03.Me – juris Rdnr. 30; VG Darmstadt, Urteil vom 10. November 2005 – 5 E 1749/03.A(4) – juris, Urteilsabdruck S. 7 f.).

Entgegenstehende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hat der Kläger in seiner Zulassungsantragsschrift nicht benannt und ist auch nicht ersichtlich.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die vom Kläger in beiden aufgeworfenen Fragen angesprochenen äußeren Umstände, wie die öffentliche Taufe, das vor Zeugen schriftlich und mündlich abgelegte Bekenntnis, dem Islam zu entsagen und Mohammed sei kein Prophet, und wie der regelmäßige Besuch von Gottesdiensten und Bibelkreisen, für die Verfolgungsgefährdung von vornherein völlig irrelevant sind. Das kann etwa dann anders sein, wenn der in Deutschland formal vollzogene Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben mit der hier ausgeübten Glaubensbetätigung schon allein für sich im islamischen Heimatland des Schutzsuchenden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit selbst dann zu erheblichen Verfolgungsmaßnahmen führt, wenn er dort den christlichen Glauben verheimlicht, verleugnet oder ggfs. aufgibt (vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Dezember 1994 a.a.O. juris Rdnr. 14; BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 a.a.O. juris Rdnr. 10). Das würde aber nicht nur eine in diesem Sinne dort regelmäßig und mit hinreichender Dichte geübte Verfolgungspraxis, sondern auch voraussetzen, dass die allein in Deutschland stattgefundenen Geschehnisse den staatlichen Stellen oder maßgeblichen Gruppen im Heimatland des Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bekannt werden.

Soweit dazu das Verwaltungsgericht (ergänzend) auf Seite 8 seiner Entscheidungsgründe ausgeführt hat, es sei nicht ersichtlich, dass die afghanischen Behörden von der Taufe des Klägers und seinem Bekenntnis, er entsage dem Islam und Mohammed sei kein Prophet, Kenntnis erlangt haben könnten, hat der Kläger dazu nichts ausgeführt, so dass es deshalb schon an einer Entscheidungserheblichkeit der von ihm zu einer derartigen afghanischen Verfolgungspraxis aufgeworfenen Fragen fehlen dürfte.

Jedenfalls hat er aber eine Klärungsbedürftigkeit für diese unter 1. aufgeworfene Tatsachenfrage nicht hinreichend dargelegt.