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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 04.09.2007 - 1 C 21.07 - asyl.net: M11818
https://www.asyl.net/rsdb/M11818
Leitsatz:

1. "Altausweisungen" von Unionsbürgern und die daran anknüpfenden gesetzlichen Sperrwirkungen bleiben auch nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU am 1. Januar 2005 wirksam.

2. Die Befristung der Sperrwirkungen von Ausweisungen bemisst sich für Unionsbürger nunmehr nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU in sinngemäßer Anwendung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Unionsbürger, Altfälle, Beurteilungszeitpunkt, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Widerruf, Zuwanderungsgesetz, Unionsbürgerrichtlinie, Übergangsregelung, Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Befristung, Ermessen
Normen: VwVfG § 49 Abs. 1; VfVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 102 Abs. 1; FreizügG/EU § 11 Abs. 2; FreizügG/EU § 7 Abs. 2 S. 2; RL 2004/38/EG Art. 32 Abs. 1
Auszüge:

Die Revision ist nur teilweise begründet. Das Berufungsgericht hat in Übereinstimmung mit Bundesrecht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Aufhebung der Ausweisung im Wege eines Wiederaufgreifens des Ausweisungsverfahrens hat. Insoweit bleibt die Revision ohne Erfolg. Soweit das Berufungsgericht dagegen über den von dem Begehren des Klägers hilfsweise mit umfassten Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung keine Entscheidung getroffen hat, ist die Revision begründet.

2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens gemäß § 1 LVwVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG mit dem Ziel eines ex nunc wirkenden Widerrufs der Ausweisung (§ 49 Abs. 1 VwVfG).

b) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens; denn mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 hat sich die Rechtslage nicht zu seinen Gunsten geändert. Eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt nur vor, wenn die für den Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsnormen, also dessen entscheidungserhebliche rechtliche Grundlagen, nachträglich geändert werden (Urteil vom 8. Mai 2002 - BVerwG 7 C 18.01 - NVwZ-RR 2002, 548). Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung vom 11. September 1995 fortbestehen. Das ergibt sich aus der Übergangsvorschrift des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wonach u.a. die vor dem 1. Januar 2005 getroffenen Ausweisungen einschließlich ihrer Rechtsfolgen wirksam bleiben. Die Materialien zu dieser Regelung belegen den Willen des Gesetzgebers, dass die durch eine "Altausweisung" ausgelösten gesetzlichen Verbote aus § 8 Abs. 2 AuslG 1990 fortwirken (so die Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrucks 15/420 S. 100). Das gilt nicht nur für Ausländer aus Nicht-EU-Staaten (Drittstaater); denn § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU sieht im Anschluss an eine Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU, die an die Stelle der Ausweisung von Unionsbürgern getreten ist, ebenfalls ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vor. Anders als bei der in § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU nicht genannten Abschiebung begegnet deshalb die Fortgeltung der an die Ausweisung eines Unionsbürgers geknüpften Sperrwirkungen unter dem Aspekt einer nicht gerechtfertigten intertemporalen Ungleichbehandlung keinen Bedenken.

Demgegenüber ist die Revision der Auffassung, § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG könne auf Unionsbürger nicht angewendet werden, weil die Vorschrift in dem als abschließend anzusehenden Katalog des § 11 Abs. 1 FreizügG/EU nicht genannt sei (so auch OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2006, 259; Gutmann, InfAuslR 2005, 125 126>). Dem folgt der Senat nicht. Zwar findet das Aufenthaltsgesetz auf Unionsbürger grundsätzlich keine Anwendung; denn § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verweist auf § 1 FreizügG/EU, der zur Bestimmung des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU allein an dem formalen Status des Unionsbürgers (und dessen Familienangehörigen) anknüpft. Indes greift an dieser Stelle die Rückverweisung des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, nach der - mangels besonderer Regelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU - das Aufenthaltsgesetz anzuwenden ist, wenn die Ausländerbehörde u.a. den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festgestellt hat. Intertemporal steht der Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU der auf einer bestandskräftigen Ausweisung beruhende Verlust des Freizügigkeitsrechts gleich; denn die Rechtswirkungen der beiden Rechtsakte entsprechen sich. Demzufolge findet das Aufenthaltsgesetz einschließlich der Übergangsvorschrift des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch auf zuvor ausgewiesene Unionsbürger Anwendung (so im Ergebnis auch OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 305; VGH Mannheim, InfAuslR 2007, 182; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, II-§ 102 Rn. 2; Groß, ZAR 2005, 81 86>; Lüdke, InfAuslR 2005, 177 178>). Da sich die Rechtslage mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht zugunsten des Klägers geändert hat, ist der geltend gemachte Anspruch auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens jedenfalls unbegründet.

3. Über den auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung gerichteten Hilfsantrag des Klägers hat das Berufungsgericht nicht entschieden.

a) Grundlage des Befristungsanspruchs ist § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Danach wird das durch die Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU ausgelöste Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU) auf Antrag befristet. Mit Blick auf die in § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG getroffene Übergangsregelung werden von dieser Anspruchsgrundlage in sinngemäßer Anwendung auch die fortwirkenden Rechtsfolgen der Ausweisung eines Unionsbürgers erfasst. § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU betrifft als Sonderregelung im Sinne des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU nicht (mehr) freizügigkeitsberechigte Unionsbürger, zu denen - wie bereits ausgeführt - auch der Kläger zählt.

Die Vorschrift gewährt Unionsbürgern - anders als die Regelbefristung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG für Drittstaater - einen strikten Rechtsanspruch auf Befristung ("ob"); nur über die Länge der Frist ist nach Ermessen zu entscheiden.

b) Bei der im behördlichen Auswahlermessen verbleibenden Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung bzw. Ausweisung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der Prüfung im Einzelfall, ob die vorliegenden Umstände auch jetzt noch das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkungen als Dauereingriff in das Freizügigkeitsrecht mit Blick auf die hohen Anforderungen des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU tragen. Die Behörde hat dazu auch das Verhalten des Betroffenen nach der Ausweisung zu würdigen und im Wege einer Prognose auf der Grundlage einer aktualisierten Tatsachenbasis die (Höchst-)Frist nach dem mutmaßlichen Eintritt der Zweckerreichung zu bemessen. Im Falle einer langfristig fortbestehenden Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers aber auch bei Unionsbürgern ein langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise nicht ausgeschlossen (BT-Drucks 15/420 S. 105).

Die sich an der Erreichung des Zwecks der Verlustfeststellung bzw. Ausweisung orientierende äußerste Frist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. Urteil vom 11. August 2000 - BVerwG 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 373> zur Regelbefristung). Dabei sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu nehmen. Haben z.B. familiäre Belange des Betroffenen durch die Geburt eines Kindes im Bundesgebiet nach der Ausweisung an Gewicht gewonnen, folgt daraus eine Ermessensverdichtung in Richtung auf eine kürzere Frist. Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles nach Gewichtung der jeweiligen Belange vorzunehmen ist, kann im Extremfall bis zu einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ergebnis einer Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt führen (vgl. Urteil vom 7. Dezember 1999 - BVerwG 1 C 13.99 - a.a.O. S. 150 f.).

Demzufolge ermöglicht die Befristung im Rahmen des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU als Ausprägung des Übermaßverbots, die gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen zeitlich abgestuft auszutarieren. Die Befristungsentscheidung zwingt die Ausländerbehörde zu einer erneuten Rechtfertigung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf aktualisierter Tatsachengrundlage unter Berücksichtigung der Maßstäbe des § 6 FreizügG/EU. Sie verhindert, dass sich die Aufrechterhaltung der Sperrwirkungen als unverhältnismäßiger Dauereingriff u.a. in das Freizügigkeitsrecht des Betroffenen erweist.