Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von syrisch-orthodoxen Christen aus der Türkei.
Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung von syrisch-orthodoxen Christen aus der Türkei.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
Maßgeblich für die Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen, die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils ergangen sind, ist der Zeitpunkt des rechtskräftig gewordenen Verpflichtungsurteils. Nur wenn das Bundesamt die Anerkennung von sich aus ausgesprochen hat, kommt es im Widerrufsverfahren darauf an, ob sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nach Ergehen des bestandskräftigen Anerkennungsbescheids erheblich geändert haben (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.05.2003, BVerwGE 118, 174).
In Anwendung dieser Grundsätze haben sich die maßgeblichen Verhältnisse für syrisch-orthodoxe Christen in der Türkei seit der Anerkennung des Klägers nicht erheblich und dauerhaft so verändert, dass die für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit auszuschließen sind.
Zwar wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung mittlerweile eine mittelbare Gruppenverfolgung von syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin verneint (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 22.02.2006 - 6 UE 2268/04.A - Juris -; OVG Bremen, Urt. v. 21.02.2001 - 2 A 291/99.A - Juris -; OVG Lüneburg, Urt. v. 21.06.2005 - 11 LB 256/02 - Juris -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 27.10.2005 - A 12 S 603/05 - Juris -). Hieraus kann jedoch nicht auf eine Verfolgungssicherheit geschlossen werden, zumal in diesen Entscheidungen erstmals um die Anerkennung als politischer Flüchtling gestritten wurde und nicht um den Widerruf einer seinerzeit ausgesprochenen Asylanerkennung oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Im Widerrufsverfahren ist keine generalisierende Betrachtungsweise und auch keine Erörterung einer Gruppenverfolgung geboten, maßgebend ist vielmehr die Frage, ob konkret der als politisch Verfolgter anerkannte Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei vor Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit hinreichend sicher ist (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 05.06.2007 - 10 A 11576/06 - Juris -).
Die Verhältnisse in der Türkei im Hinblick auf die Gesetzgebung haben sich seit der Anerkennung des Klägers durchaus verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 11.01.2007). Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo aber nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechen nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit sind nur eingeschränkt gewährleistet. Die bisherigen Schwierigkeiten, mit denen nichtmuslimische Glaubensgemeinschaften in der Türkei konfrontiert waren und sind, bestehen unverändert fort (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007; EU-Fortschrittsbericht vom 08.11.2006).
Die Situation für syrisch-orthodoxe Glaubensangehörige im Südosten der Türkei hat sich nicht derart entspannt und stabilisiert, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei als Mitglied der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft vor erneuten Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher ist. Nach wie vor wird von Übergriffen von im Tur Abdin lebenden Kurden gegenüber syrisch-orthodoxen Christen berichtet: ...
Zwar gibt es seit einigen Jahren verschiedene Rückkehrprojekte von syrisch-orthodoxen Christen mit dem Ziel, verlassene Dörfer wieder neu zu errichten; auch wurden beispielsweise in Kafro bereits mehrere Häuser neu errichtet (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme vom 28.06.2004 an OVG Lüneburg; ai, Stellungnahme vom 24.06.2004 an OVG Lüneburg). Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass diese syrisch-orthodoxen Christen aus Europa die Situation in der Türkei nicht mehr als bedrohlich empfinden und von einer hinreichenden Sicherheit ausgehen. Denn zum einen verbringen sie im Wesentlichen nur ihren Sommerurlaub in ihren neuen Häusern (vgl. Okolisan, Reisebericht Tur Abdin 2006). Zum anderen behalten die zeitweiligen Rückkehrer wohlweislich ihre in den europäischen Staaten erworbene Staatsangehörigkeit bei, so dass sie die Türkei auch jederzeit wieder verlassen können. Der Umstand, dass syrisch-orthodoxe Christen Besuchsreisen in ihre ursprünglichen Heimatdörfer machen, ist ein Zeichen ihrer Sehnsucht nach ihrer Heimat, keineswegs aber ein Indiz für eine stabile Sicherheitslage für die religiöse Minderheit in der Südosttürkei (vgl. Oberkampf, Der Tur Abdin zwischen Aufbruch, Unsicherheit und Angst, Reisebericht vom September 2006).
Die gegenwärtige Sicherheitslage der syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin kann vielmehr als sehr instabil und brüchig bezeichnet werden (vgl. Oberkampf vom 31.10.2006, abgedruckt in: www.nordirakturabdin.info/cms/index.php. Die von kurdischen Stämmen rekrutierten staatstreuen Dorfschützer haben nach der Vertreibung der Yeziden und syrisch-orthodoxen Christen deren Dörfer und Siedlungen mit Einverständnis der Gouverneure, Landräte und Militärkommandanten des türkischen Staates besetzt. Diese haben im Einklang mit den staatstreuen kurdischen Stammesführern und Großgrundbesitzern kein Interesse an einer Rückkehr der Yeziden und Christen und damit an einer Wiederinbesitznahme der landwirtschaftlichen Flächen durch die Rückkehrer (vgl. IMK-Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 242-243 vom 28.05.2005). Ziel der Überfälle auf syrisch-orthodoxe Christen ist es, die restlichen Aramäer im Südosten der Türkei einzuschüchtern und zu vertreiben, sowie die im Ausland lebenden Aramäer von einer Rückkehr in die Türkei abzuhalten (vgl. Eastern Star News Agency vom 05.09.2006 aaO).
Seit dem Jahr 2005 hat die antichristliche Stimmung in der ganzen Türkei zugenommen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 29.05.2006). Nach dem Mord an dem Journalisten Dink am 19.01.2007 hat sich die Sicherheitssituation der christlichen Minderheit in der Türkei aufgrund der nationalistischen Welle weiter erheblich verschlechtert (NZZ vom 28.02.2007). Der türkische Premier Erdogan sprach insoweit am 27.01.2007 vom "Tiefen Staat" (vgl. www.wikipedia.org/wiki/Tiefer_Staat). Damit gab der türkische Ministerpräsident selbst zu erkennen, dass die türkischen Behörden aufgrund der nationalistischen Welle, die tief bis in die Strukturen der Polizei und sonstigen Sicherheitsbehörden hineinreicht, keinen wirksamen Schutz gegen nichtstaatliche Verfolger gewähren können. Auch die oben aufgeführten Anschläge gegen syrisch-orthodoxe Christen werden dem "Tiefen Staat" zugeschrieben (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker vom 20.03.2007).
Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit wieder verbessert und derart stabilisiert, dass die zu verlangende Sicherheit nunmehr gegeben ist. Dem steht zum einen entgegen, dass die Reformbemühungen in der Türkei in letzter Zeit zum Stillstand gekommen sind. Hiergegen spricht auch das deutliche Erstarken des Nationalismus wie auch des Islamismus in der Türkei. Schließlich verstärken die Rückkehrprojekte von syrisch-orthodoxen Christen die Angst und die Abwehrhaltung der muslimischen Bevölkerungsteile, da diese den Verlust von Land und anderen Wirtschaftsgütern fürchten müssen. Nach allem kann von einer hinreichenden Sicherheit vor erneuten Verfolgungsmaßnahmen bei einer Rückkehr in den Südosten der Türkei keine Rede sein.
Der Kläger kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei, insbesondere in Istanbul, verwiesen werden. Insoweit wurde im Urteil vom 30.06.1995 - A 18 K 17834/94 - u.a. ausgeführt, der Kläger habe keine Berufsausbildung, sondern in der Landwirtschaft seiner Eltern mitgearbeitet. Er spreche ausschließlich aramäisch, so dass er jedenfalls auf absehbare Zeit schwerlich Arbeit finden werde. Da ihm in der Zwischenzeit nur ein Leben unterhalb des Existenzminimums möglich wäre, könne in seinem Fall eine Existenzmöglichkeit in Istanbul oder in den übrigen Gebieten der Türkei nicht angenommen werden. Dass sich diese für den Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend verändert haben, wird von der Beklagten weder behauptet noch im angefochtenen Bescheid dargelegt. Darüber hinaus kann vom Kläger auch vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich im Westteil der Türkei, insbesondere in Istanbul aufhält (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004). Die in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG verwendete Formulierung "vernünftigerweise erwartet werden kann" verbindet objektive, vernunftbezogene Aspekte mit dem subjektiv angefüllten Kriterium der Erwartung, das auch die individuellen Fähigkeiten und Gegebenheiten des Flüchtlings umfasst (vgl. Lehmann, NVwZ 2007, 508). Der Kläger hat in der Türkei lediglich landwirtschaftliche Kenntnisse erworben und im Bundesgebiet eine Berufsausbildung nicht erfahren. Zwar hat er durch seine Tätigkeit als Hilfsarbeiter in Deutschland (er ist als Autopfleger beschäftigt) eine gewisse praktische Berufserfahrung erlangt. Er verfügt jedoch nach wie vor nicht über ausreichende türkische Sprachkenntnisse, wovon sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung überzeugt hat. Angesichts dessen kann nicht erwartet werden, dass der Kläger im Westteil der Türkei eine Existenzgrundlage findet, zumal er dort auch keine Verwandte hat, so dass ein interner Schutz nicht gegeben ist.