VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 12.10.2007 - 18 K 6334/05.A - asyl.net: M11856
https://www.asyl.net/rsdb/M11856
Leitsatz:

Wechselseitige Gruppenverfolgung von Sunniten und Schiiten im Irak; zur Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie.

 

Schlagwörter: Irak, Flüchtlingsbegriff, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungshandlung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gruppenverfolgung, Schiiten, Sunniten, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, UNHCR, Handbuch, UNHCR-Richtlinie, Situation bei Rückkehr, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, gemischt-konfessionelle Abstammung, interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9; RL 2004/83/EG Art. 10; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

Wechselseitige Gruppenverfolgung von Sunniten und Schiiten im Irak; zur Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen und auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Die zum 28.08.2007 in Kraft getretene Neuregelung des § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG stellt in Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) nunmehr klar, dass für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, die Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie ergänzend anzuwenden sind.

War bereits durch das seit dem 01.01.2005 geltende Zuwanderungsgesetz und die damit in § 60 Abs. 1 AufenthG eingefügte ausdrückliche Bezugnahme auf die Genfer Flüchtlingskonvention sowie die Aufnahme der nichtstaatlichen Akteure als taugliche Verfolgungsakteure ein grundlegender Perspektivwechsel von der bisherigen Zurechnungslehre hin zu der der Genfer Flüchtlingskonvention zugrundeliegenden Schutzlehre eingeleitet worden (vgl. VG Aachen, Urteil vom 28. April 2005 - 5 K 1587/03.A -, zitiert nach Juris; VG Köln, Urteil vom 17.06.2005 - 18 K 5407/01.A - Juris), so ist dieser Schritt jetzt durch den Verweis auf die ergänzend heranzuziehenden Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie über die Art und Weise der Berücksichtigung von Vorverfolgung (Art. 4 Abs. 4), über die Akteure, die Schutz bieten können (Art. 7), den Internen Schutz (Art. 8) sowie insbesondere über die Verfolgungshandlungen (Art. 9) und die Verfolgungsgründe (Art. 10), die der Klarstellung und Kodifizierung des Flüchtlingsbegriffs in Art. 2 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie dienen, der mit demjenigen in Art. 1 A GFK identisch ist, endgültig vollzogen worden (vgl. hierzu schon zur Rechtslage seit Ablauf der Umsetzungsfrist für die Qualifikationsrichtlinie: VG Lüneburg, Urteil vom 29.11.2006 - 1 A 165/04 - Juris; VG Stuttgart, Urteil vom 17.01.2007 - A 10 K 13991/03 - Juris).

Den in den Art. 4 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie enthaltenen Auslegungsregeln zu einzelnen Elementen des Flüchtlingsbegriffs kommt nun auch im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG maßgebliche Bedeutung zu.

Insbesondere ist bei der Frage, was als Verfolgungshandlung anzusehen ist, nunmehr Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie zu beachten. Die Vorschrift ist so gestaltet, dass sie flexibel und umfassend auszulegen ist und auch neue Formen der Verfolgung erfasst werden können (vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig).

Nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie gelten als Verfolgungshandlungen im Sinne des Art. 1 A GFK solche Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Eine einmalige Verfolgungshandlung kann demnach ausreichend sein, aber auch eine Wiederholung schwerwiegender Handlungen ebenso wie eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, sofern diese Verfolgung gemäß Art. 9 Abs. 3 mit einem oder mehreren der Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention verknüpft ist. Als Verfolgung gelten ausschließlich Handlungen, die absichtlich, fortdauernd oder systematisch ausgeführt werden (vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325, KOM (2001) 510 endgültig).

Die bisher von der deutschen Rechtsprechung vorgenommene separate Betrachtung jeder einzelnen Verfolgungsmaßnahme auf ihre Asylerheblichkeit ist damit überholt. Entscheidend ist eine Gesamtbetrachtung. Eine Häufung unterschiedlicher Maßnahmen, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der Verfolgung erfüllt, kann dazu führen, dass ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen kumulativer Gründe besteht (vgl. Erläuterungen zu Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) des Vorschlags der Kommission, Abl. C 51 E vom 26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig).

Der Qualifikationsrichtlinie kann auch nicht das der deutschen Asylrechtsprechung geläufige Kriterium entnommen werden, dass die Verfolgung – soweit andere Rechtsgüter als Leib, Leben und Freiheit betroffen sind – ihrer Intensität und Schwere nach die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen muss, was die Bewohner des Herkunftsstaates allgemein hinzunehmen haben bzw. dass die Verfolgungshandlung den Einzelnen ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung ausgrenzen muss (vgl. hierzu auch OVG Saarland, Urteil vom 26.06.2007 - 1 A 222/07 - Juris).

Die Begriffe der Ausgrenzung und der übergreifenden Friedensordnung, die dem überholten Konzept der Staatlichkeit der Verfolgung entstammen, sind der Qualifikationsrichtlinie und dem internationalen Flüchtlingsrecht fremd und spielen für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie keine Rolle (vgl. Marx, Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, Kap. II, § 5 Rdnr. 5).

Es kommt vielmehr ausschließlich auf die schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte an. Zu diesen gehören nach Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 EMRK jedenfalls das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot von Folter und von unmenschlichen und erniedrigenden Strafen (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK) sowie das Verbot der Strafe ohne Gesetz (Art. 7 EMRK). Diese Aufzählung ist allerdings nicht abschließend. Als Schutzgüter kommen grundsätzlich alle in der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Rechte in Betracht, insbesondere das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK), das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren (Art. 6 EMRK), der Schutz von Familien- und Privatleben (Art. 8 EMRK), der Schutz der Wohnung und des Briefverkehrs (Art. 8 EMRK), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) sowie die Eheschließungsfreiheit (Art. 12 EMRK).

Art. 9 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie enthält eine – ebenfalls nicht abschließende – Aufzählung unterschiedlicher Verfolgungshandlungen, zu denen auch Maßnahmen mit tendenziell eher geringer Eingriffsqualität gehören, wie etwa diskriminierende gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen oder die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung und Strafverfolgung. Diese Verfolgungshandlungen können in ihrer Gesamtwirkung das Gewicht und die Intensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung aufweisen.

Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie erläutert die Grundsätze, die im Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen zu beachten sind. Er orientiert sich dabei an den Verfolgungsmerkmalen der Genfer Flüchtlingskonvention. Die dort genannten Verfolgungsgründe sind ebenso wie in Art. 1 A (2) GFK abschließend.

Bei der Auslegung und der Ermittlung des Bedeutungsgehalts der einzelnen Verfolgungsgründe ist auf das Handbuch des UNHCR über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft aus dem Jahre 2003 (Handbuch des UNHCR) sowie vorhandene UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz zurückzugreifen. Dies ergibt sich sowohl aus der Wortidentität der Flüchtlingsdefinitionen in Art. 2 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie und Art. 1 A GFK als auch aus Systematik sowie Ziel und Zweck der Qualifikationsrichtlinie. In Erwägungsgrund 2 der Richtlinie wird ausdrücklich auf die Vereinbarungen der Sondertagung des Rates von Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 hingewiesen, nach denen sich das zu schaffende Gemeinsame Europäische Asylsystem auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls stützen sollte. In Erwägungsgrund 3 der Richtlinie wird klargestellt, dass die Genfer Konvention und das Protokoll einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellen. In Erwägungsgrund 15 der Richtlinie werden Konsultationen mit dem UNHCR als wertvolle Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft bezeichnet. Mehrfach stellt die Richtlinie demnach unmissverständlich klar, dass sie sich hinsichtlich der Regelungsbereiche, die von der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst sind, an dieser orientieren will und dabei die Stellungnahmen des UNHCR, zu denen insbesondere das Handbuch und etwaige Richtlinien zu speziellen Problemkreisen gehören, als Auslegungshilfe akzeptiert. Die gemeinsamen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Genfer Flüchtlingskonvention sollten eindeutig die Grundlage der mit der Qualifikationsrichtlinie beabsichtigten Harmonisierung sein, deren wesentliches Ziel nach Erwägungsgrund 7 der Richtlinie die Eindämmung der Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten ist. Auch aus Art. 63 Abs. 1 Ziff. 1 Buchst. c) EG, der die Rechtsgrundlage für die Qualifikationsrichtlinie darstellt, und der damit geschaffenen Bindung insbesondere an die Genfer Flüchtlingskonvention sowie das Protokoll folgt, dass Abweichungen von der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gewollt sind. Aus dem Vorstehenden ergibt sich zwangsläufig, dass die nach völkervertraglichen Grundsätzen zu ermittelnde Auslegung einzelner Konventionsmerkmale maßgebliche Bedeutung auch für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie hat. Dies schließt die Heranziehung der im Zeitpunkt der Verabschiedung der Qualifikationsrichtlinie bekannten Auslegung einzelner Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention durch den UNHCR und der bekannten Staatenpraxis bei der Auslegung der Qualifikationsrichtlinie ein. Uneingeschränkt muss dies in den Fällen angenommen werden, in denen das Handbuch des UNHCR und etwaige Richtlinien eine übereinstimmende Staatenpraxis widerspiegeln und der Wortlaut der Regelungen der Qualifikationsrichtlinie keinerlei inhaltliche Abweichungen hiervon beinhaltet (vgl. zu dieser Methodik auch: OVG NRW, Urteil vom 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - Juris; Urteil der Kammer vom 12.10.2007 3468/06.A www.nrwe.de).

Hinsichtlich der einzelnen Konventionsmerkmale sind daher neben den in Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie bereits vorgenommenen ausdrücklichen Konkretisierungen insbesondere die UNHCR-Richtlinien zur Geschlechtsspezifischen Verfolgung im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 07. Mai 2002, zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 07. Mai 2002, zu Anträgen auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 und/oder des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. April 2004 sowie zur Anwendung des Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge auf die Opfer von Menschenhandel und entsprechend gefährdete Personen vom 07. April 2006 als Auslegungshilfen heranzuziehen.

Mit der Definition in Art. 2 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie verweist diese zudem auf das Schlüsselelement des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention, nämlich die begründete Furcht. Auch zur Ermittlung des Bedeutungsgehalts der "begründeten Furcht" ist auf das Handbuch des UNHCR zurückzugreifen, dessen Ausführungen sich in Art. 4 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie widerspiegeln.

Die der deutschen Rechtsprechung geläufige Unterscheidung zwischen dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und dem sog. herabgestuften Maßstab bei Vorverfolgung entspricht im Kern der Regelung in Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, wonach die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht ist. Es spricht aber manches dafür, dass den hier entwickelten Prognosemaßstäben tendenziell eine zu starke Objektivierung zugrunde liegt, so dass nunmehr eine stärkere Gewichtung des subjektiven Elements der Verfolgungsfurcht geboten sein dürfte.

Mit der daraus resultierenden besonderen Vorsicht können wesentliche Grundsätze des Bundesverwaltungsgerichts, das auch bislang subjektive Elemente unter dem Aspekt der Zumutbarkeit stets hervorgehoben hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118.90 BVerwGE 89, 162–171) weiterhin Grundlage der Prüfung sein.

Die danach vorzunehmende qualifizierende Gesamtbetrachtung entspricht im Wesentlichen den Regelungen in Art. 4 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie (vgl. Erläuterungen zu Art. 7 des Vorschlags der Kommission, Abl.C51 E vom 26.02.2002, S. 325., KOM (2001) 510 endgültig) und kann bei verständiger Bewertung des Einzelfalls in das Konzept der begründeten Verfolgungsfurcht integriert werden.

Gemessen an diesen Kriterien liegen hinsichtlich des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor, so dass ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.

Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr in den Irak und dort nach Bagdad, seinem Herkunftsort, zur Überzeugung der Kammer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zahlreichen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in Anknüpfung an seine konfessionelle Zugehörigkeit ausgesetzt, so dass seine Verfolgungsfurcht begründet und ihm eine Rückkehr unzumutbar ist.

Innerhalb der sich im Irak unaufhörlich drehenden Spirale der Gewalt hat sich unter den zahlreichen feststellbaren Verfolgungsmustern spätestens seit dem mutmaßlich von sunnitischen Extremisten auf die schiitische Al-Askari Moschee in Samarra am 22.02.2006 verübten Bombenanschlag die von Sunniten bzw. Schiiten gegenseitig ausgeübte konfessionelle Gewalt als besonderes Verfolgungsmuster herauskristallisiert, das inzwischen die meisten Todesopfer unter der irakischen Bevölkerung fordert. In großem Umfang finden gegenwärtig im Zentral- und Südirak systematische, gewaltsame Vertreibungen statt, die den Charakter konfessionell geprägter Säuberungen haben.

Die Zahl der irakischen Binnenvertriebenen hat sich infolge der gewaltsamen Vertreibungen auf mindestens über 2 Millionen Menschen erhöht. Wenngleich die Konfrontationslinien nicht ausschließlich zwischen Sunniten und Schiiten verlaufen, so liegt doch die Hauptursache für interne Vertreibung in der konfessionell motivierten Gewalt.

Betroffen von den konfessionell motivierten Säuberungen sind im gesamten Irak Gebiete mit gemischt-konfessioneller Bevölkerung. Dazu gehören alle großen Städte wie Bagdad, Mossul, Kerkuk und Basra, aber auch die Provinzen Aslah-Al-Din, Diyala und Babil. Bagdad ist in besonderem Maße Schauplatz von Säuberungsaktionen. Infolge der Gewalt fliehen Zivilisten innerhalb Bagdads in diejenigen Gebiete, in denen ihre Konfession die Mehrheit darstellt und die für Angehörige der jeweils anderen Gruppierung oder andere Außenstehende zu absoluten Tabu-Zonen geworden sind. Bagdad ist inzwischen nahezu vollständig entlang konfessioneller Trennlinien aufgeteilt. Manche Quellen weisen darauf hin, dass die sunnitische Bevölkerung Bagdads aus der gesamten Stadt vertrieben werden soll. Schon jetzt ist die ehemals mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Bagdads kleiner geworden. Bagdad ist gegenwärtig eine "Stadt der Angst", in der jeder jederzeit damit rechnet und rechnen muss, Opfer von Mord und Totschlag zu werden. Der Grad der Gefährdung von Rückkehrern hängt vor diesem Hintergrund – nicht nur in Bagdad – wesentlich von der derzeitigen ethnisch-konfessionellen Zusammensetzung ihrer Herkunftsgebiete ab (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007).

Grundsätzlich hat aber auch die Trennung der verschiedenen Konfessionen nicht zu einer Verbesserung der Sicherheitslage geführt, sondern lediglich dazu, dass Angriffe auf Angehörige der jeweils anderen Gruppe erleichtert werden und die Gewalt weiter verstärkt wird (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007).

Sowohl sunnitische als auch schiitische Gruppierungen sind gleichermaßen verantwortlich für weitreichende Menschenrechtsverletzungen an Angehörigen der jeweils anderen Gruppierung oder an als "Verräter" angesehenen Angehörigen der eigenen Gruppe. In großem Umfang sind auch die schiitisch dominierten Sicherheitskräfte, die mit Todesschwadronen kollaborieren, in die gewaltsamen Übergriffe involviert. Selbst vermeintlich rein kriminelle Gruppierungen arbeiten oft Hand in Hand mit bewaffneten Gruppierungen und unterstützen deren politisch-konfessionelle Ziele (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007).

Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den konfessionellen Gruppen haben bürgerkriegsartige Ausmaße erreicht. Trotzdem folgen die Übergriffe einem klaren Muster entlang konfessionellpolitischer Trennlinien und knüpfen an die konfessionelle Zugehörigkeit der Opfer ebenso an wie an tatsächliche oder vermeintliche politische Überzeugungen und Loyalitäten. Die zwangsweisen Vertreibungen, die für sich genommen bereits schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen darstellen, und die damit einhergehenden schwersten Gewaltakte sind daher nicht "lediglich" Auswirkungen willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internen bewaffneten Konflikts, sondern erfolgen gezielt und knüpfen an relevante Verfolgungsgründe im Sinne von Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie und Art. 1 A der GFK an.

Die Kammer ist nach alledem davon überzeugt, dass gegenwärtig jeder Sunnit und Schiit aus dem Zentral- und Südirak jedenfalls dann Flüchtling im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG und der Qualifikationsrichtlinie sowie der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wenn er aus einem gemischt-konfessionellen Gebiet, insbesondere aus Bagdad, stammt.

Die Kammer ist ferner davon überzeugt, dass Rückkehrer zusätzlich generell einem erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind. Wenngleich hierzu mangels signifikanter Rückkehrbewegungen keine konkreten Daten vorliegen, ist es aus Sicht der Kammer unter Berücksichtigung der im Irak bekannten Verfolgungsmuster hoch plausibel, dass Rückkehrer entweder in Anknüpfung an "westliche" Lebens- und/oder Bekleidungsgewohnheiten oder in Anknüpfung an vermeintlichen im westlichen Ausland erworbenen Reichtum einem erhöhten Risiko unterworfen sind, Opfer radikal-islamischer Kräfte oder krimineller Banden zu werden. Gleiches gilt für (rückkehrende) Männer im wehrfähigen Alter hinsichtlich der Gefahr, von sogenannten Aufständischen respektive Milizen zur Kooperation gezwungen zu werden (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak – Update vom 22.05.2007; anders insoweit: Institut für Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007).

Die Kammer hat nach alledem keinen Zweifel, dass der aus Bagdad stammende Kläger im Falle einer Rückkehr in erheblichem Maße gefährdet wäre, Opfer konfessioneller Säuberungsmaßnahmen und der zur Durchsetzung dieses Ziels angewandten Gewalt zu werden und sich seine Gefährdungslage aufgrund seines langjährigen Aufenthalts im westlichen Ausland zusätzlich verschärft.

Darüber hinaus ist der Kläger auch deshalb einem gesteigerten Risiko ausgesetzt, weil er aus einer gemischt-konfessionellen Familie stammt.

Effektiver Schutz vor gewalttätigen Übergriffen im Rahmen der Säuberungsmaßnahmen ist nach übereinstimmender Auskunftslage nicht verfügbar. Weder die irakischen Sicherheitskräfte allein noch in Zusammenarbeit mit den multinationalen Truppen sind in der Lage, der Gewalt Einhalt zu bieten oder gefährdete Personen zu schützen. Insbesondere die irakischen Sicherheitskräfte sind, wie bereits ausgeführt, selbst in erheblichem Maße für die Gewalt gegenüber Sunniten verantwortlich (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007).

Auch die von den USA im Januar 2007 eingeleitete Sicherheitsoffensive mit einer erheblichen Aufstockung ihrer Soldaten hat zu keiner durchgreifenden Verbesserung der Sicherheitslage oder gar Eindämmung der konfessionellen Gewalt geführt.

Eine inländische Fluchtalternative liegt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung vor, wenn der Asylsuchende auf Gebiete seines Heimatstaates verwiesen werden kann, in denen er – nach dem herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab – vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, und wenn ihm dort – nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit – keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315 (342 ff.); BVerwG, Urteile vom 15.05.1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (145), vom 20.11.1990 - 9 C 73.90 -, InfAuslR 1991, 181, vom 08.12.1998 - 9 C 17.98 -, vom 05.10.1999 - 9 C 15/99 und vom 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, DVBl. 1996, 1260).

Ob diese Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative auch unter Berücksichtigung von Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie 2004/84/EG uneingeschränkt aufrecht erhalten werden können oder ob nunmehr unter Heranziehung der Richtlinien des UNHCR vom 23. Juli 2003 (vgl. Richtlinien zum internationalen Schutz: "Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative" im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge) für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative mehr als die bloße Sicherstellung des wirtschaftlichen Existenzminimums erforderlich ist, kann die Kammer an dieser Stelle offen lassen. Denn der Kläger kann auch nach den bisherigen Anforderungen weder auf eine inländische Fluchtalternative in den kurdischen Regionen des Nordirak noch in anderen Regionen des Zentral- und Südirak verwiesen werden.

Der gesamte Zentral- und Südirak kommt schon im Hinblick auf die dort überall katastrophale Sicherheitslage und die allgegenwärtige Gefahr, wieder Opfer von Säuberungsaktionen zu werden, als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Aber auch im Übrigen kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass sunnitische respektive schiitische Flüchtlinge, die aus ethnisch-konfessionell gemischten Gebieten fliehen, sich in ethnisch-konfessionell homogenen Gebieten niederlassen können. Die lokalen Verwaltungen verschiedener Provinzen haben die Grenzen für sämtliche Binnenvertriebene geschlossen oder deren Niederlassung unter Hinweis auf die Belastung der Infrastruktur stark begrenzt. Eine Reihe von Provinzen hat spezielle Sicherheitschecks eingeführt oder verlangt, einen Bürgen vorzuweisen, der bestätigt, dass die betreffende Person nicht zu einem verdächtigen Personenkreis gehört (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 12.05.2007 an VG Köln; "Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; "Trostlose Zuflucht in Suleimaniya", NZZ vom 25.07.2007).

Auch in den kurdischen Gebieten des Nordirak wird Nicht-Kurden aus dem Zentral- und Südirak regelmäßig bereits die Niederlassung dadurch erschwert, dass ihnen ohne einen Leumundszeugen, der den örtlichen Behörden bekannt sein und sich mit seinen persönlichen Daten für diesen verbürgen muss, eine offizielle Registrierung verwehrt wird. Sie können daher dort weder Sozialhilfe noch Nahrungsmittelhilfe beziehen. Zusammen mit den seit Kriegsende immens gestiegenen Mieten, die das Gehalt eines Polizisten, Lehrers oder einfachen staatlichen Angestellten auch ohne Berücksichtigung von Wohnnebenkosten in der Regel bei weitem übersteigen, ist ein Umzug faktisch unmöglich, sofern keine tragfähigen Kontakte zu Verwandten bestehen, die bereit und in der Lage sind, ihren Familienangehörigen aufzunehmen (vgl. UNHCR, Gutachten vom 09.01.2007 und vom 08.10.2007 an VG Köln; Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 27.11.2006 und vom 12.05.2007 an VG Köln; "Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; "Trostlose Zuflucht in Suleimaniya", NZZ vom 25.07.2007).

Bei dieser Sachlage kann der Kläger daher nach Überzeugung der Kammer nicht auf eine inländische Fluchtalternative innerhalb des Irak verwiesen werden. Der Kläger selbst stammt aus Bagdad und verfügt in keinem anderen Landesteil über tragfähige verwandtschaftliche Beziehungen. Angesichts seiner Herkunft aus einer gemischt-konfessionellen Familie ist seine Aufnahme in einem konfessionell homogenen Gebiet ohnehin ausgeschlossen.