VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 12.10.2007 - 18 K 3468/06.A - asyl.net: M11857
https://www.asyl.net/rsdb/M11857
Leitsatz:

Ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung kommt nicht in Betracht, wenn zwar die Verfolgungsgefahr weggefallen ist, der Flüchtling aber keinen effektiven Schutz vor anderen Gefahren erlangen kann (hier: Irak).

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Genfer Flüchtlingskonvention, allgemeine Gefahr, Anerkennungsrichtlinie, UNHCR, Handbuch, UNHCR-Richtlinie, Beweislast, politische Entwicklung, Sicherheitslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Bst. e; RL 2004/83/EG Art. 14 Abs. 1
Auszüge:

Ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung kommt nicht in Betracht, wenn zwar die Verfolgungsgefahr weggefallen ist, der Flüchtling aber keinen effektiven Schutz vor anderen Gefahren erlangen kann (hier: Irak).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG 1990) vorliegen, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Rechtsgrundlage des Widerrufsbescheides des Bundesamtes vom 14.07.2006 ist § 73 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG 2007) in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (Richtlinienumsetzungsgesetz) am 28.08.2007 geltenden Fassung. § 73 AsylVfG 2007 ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG bei der vorliegenden Entscheidung anzuwenden; eine Übergangsregelung hat der Gesetzgeber nicht geschaffen.

Wann eine entscheidungserhebliche Veränderung der politischen Verhältnisse im Herkunftsstaat angenommen werden kann, ist in Übereinstimmung mit der sogenannten "Wegfall der Umstände"-Klausel in Artikel 1 C (5) des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK) zu beurteilen, die wörtlich von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) (vgl. hierzu im Einzelnen Urteil der Kammer vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A -, NVwZ-RR 2006, 67) und nunmehr auch in § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG 2007 übernommen worden ist.

Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits zur Rechtslage unter dem Zuwanderungsgesetz ausdrücklich bestätigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11. 2005, - 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 bis 292), dass die Regelung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Lichte der Genfer Konvention auszulegen ist und sie ihrem Inhalt nach Art. 1 C (5) GFK entspricht.

Soweit daher Artikel 1 C (5) Satz 1 GFK heranzuziehen ist, sind bei der Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention die Artikel 31 ff. des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 (BGBl. II 1985 S. 926/II 1987 S. 757 – WVRK) zwar nicht unmittelbar, aber als Ausdruck allgemeiner Regeln des Völkerrechts anwendbar.

Auf dieser Grundlage gelangt das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass "Wegfall der Umstände" im Sinne von Artikel 1 C (5) Satz 1 GFK – ebenso wie im Rahmen von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG – eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse meine. Unter "Schutz" sei nach Wortlaut und Zusammenhang der Beendigungsklausel ausschließlich der Schutz vor erneuter Verfolgung zu verstehen.

Das Bundesverwaltungsgericht wendet sich hier ausdrücklich gegen die anders lautende Auffassung in den UNHCR-Richtlinien. Im Falle allgemeiner Gefahren könne Schutz nach den allgemeinen Bestimmungen des deutschen Ausländerrechts gewährt werden, also insbesondere durch die Feststellung von Abschiebungshindernissen oder entsprechende Erlasse nach § 60 a AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005, a.a.O., und BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 Juris; zuletzt bestätigt durch Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 - AuAS 2007, 164-167).

Entsprechend dieser vom Bundesverwaltungsgericht vorgezeichneten Linie wird inzwischen überwiegend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG dann vorliegen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Heimatstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit – erneut Verfolgung droht. Eine grundlegende und dauerhafte Veränderung im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und der GFK wird demnach schon dann angenommen, wenn es in Folge eines Systemwechsels bzw. Regierungssturzes zu einem Wegfall des ursprünglichen Verfolgungsakteurs gekommen ist. Auf Fragen einer weitergehenden Stabilisierung und Befriedung der politischen Verhältnisse im Herkunftsstaat kommt es nicht an. Allgemeine Gefahren in Folge einer nach wie vor unzureichenden Sicherheitslage werden im Rahmen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG berücksichtigt. In Folge der im Irak herrschenden gewalttätigen Umbruchsituation entstehende neue Risiken für Einzelne oder Gruppen werden im Rahmen einer Prüfung berücksichtigt, die weitgehend derjenigen eines Erstantrages entspricht (vgl. VGH München, Urteil vom 22.03.2006 - 13 a B 05.30749 - Juris, und vom 26.02.2007 - 13 a B 05.30834 - Juris; OVG NRW, Urteil vom 04.04.2006 - 9 A 3590/05.A - Juris, und Urteil vom 15.02.2007 - 5 A 636/05.A - Juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 04.05.2006 - A 2 S 1122/05 - Juris, und Urteil vom 21.06.2006 - A 2 S 571/05 - Juris; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.05.2006 - 1 LB 117/05 - Juris; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.05.2006 - 10 A 10795/05 - Juris - wenn auch nur aus Gründen der Rechtssicherheit -; OVG Saarland, Urteil vom 29.09.2006 - 3 R 6/06 - Juris, und Urteil vom 01.12.2006 - 3 Q 126/06 - Juris).

Das erkennende Gericht hat demgegenüber in mehreren Entscheidungen die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf im Falle irakischer Staatsangehöriger angesichts der derzeitigen Situation im Irak trotz des Sturzes des Saddam-Regimes nicht vorliegen (vgl. hierzu im Einzelnen Urteil der Kammer vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A -, NVwZ-RR 2006, 67; Urteil vom 24.03.2006 - 18 K 6200/05.A - Juris; zuletzt Urteil vom 12.01.2007 - 18 K 3234/06.A - Juris).

An dieser Auffassung hält die Kammer auch nach erneuter Überprüfung vor allem der Argumente des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 20.03.2007 (1 C 21.06 AuAS 2007, 164–167) jedenfalls unter Berücksichtigung der Änderung des § 73 AsylVfG 2007 und der Entwicklung im Irak im Jahr 2007 fest.

An dem im Urteil der Kammer vom 12.01.2007 festgestellten Konsens hinsichtlich der Auslegung und Anwendung der "Wegfall der Umstände"-Klausel des Art. 1 C (5) GFK im internationalen Flüchtlingsrecht außerhalb der Bundesrepublik Deutschland hat sich seitdem nichts geändert. In völliger Übereinstimmung mit den Richtlinien des UNHCR (vgl. UNHCR, Guidelines on international protection: Cessation of Refugee Status under Article 1 C (5) und (6) of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees (the "Ceased Circumstances" Clauses, Februar 2003 (im Folgenden: Richtlinien), wird hinsichtlich des grundlegenden Charakters der eingetretenen Veränderungen im Herkunftsland gefordert, dass alle entscheidenden Faktoren berücksichtigt werden müssen. Ein Ende der Kampfhandlungen, umfassende politische Veränderungen und eine Rückkehr zu Frieden und Stabilität sind danach die typischen Situationen, in denen es zur Anwendung von Artikel 1 C (5) oder (6) GFK kommt (vgl. UNHCR, Guidelines 2003, Zf. 11).

Hinsichtlich der Dauerhaftigkeit der Änderungen wird gefordert, dass Entwicklungen, die bedeutende und grundlegende Änderungen zu offenbaren scheinen, sich zunächst konsolidieren müssen, bevor eine Entscheidung zur Beendigung der Flüchtlingseigenschaft getroffen wird. Im Falle einer gewaltsamen Veränderung im Herkunftsland wird eine besonders sorgfältige Überprüfung der Menschenrechtssituation gefordert sowie ausreichend Zeit für den Wiederaufbau des Landes und die Überwachung etwaiger Friedensvereinbarungen mit gegnerischen militanten Gruppen. Solange nicht ein echter Landesfrieden wiederhergestellt ist, sind die eingetretenen politischen Änderungen möglicherweise nicht von Dauer (vgl. UNHCR, Guidelines 2003, Zf. 13 und 14).

Entscheidend für die Beurteilung einer ausreichenden Änderung der Umstände im Sinne des Artikel 1 C (5) und (6) GFK ist ferner die Frage, ob der Flüchtling tatsächlich den Schutz seines Herkunftslandes in Anspruch nehmen kann. Ein solcher Schutz muss wirksam und verfügbar sein. Eine rein physische Sicherheit für Leib und Leben ist nicht ausreichend. Erforderlich ist das Vorhandensein einer funktionierenden Regierung und grundlegender Verwaltungsstrukturen sowie das Vorhandensein einer angemessenen Infrastruktur, innerhalb deren die Einwohner ihre Rechte ausüben können, einschließlich ihres Rechts auf eine Existenzgrundlage. Die allgemeine Menschenrechtssituation im Herkunftsland ist hierfür ein wichtiges Indiz. Eine vorbildliche Beachtung von Menschenrechten ist zwar nicht erforderlich, allerdings müssen bedeutende Verbesserungen vorliegen (vgl. UNHCR, Guidelines 2003, Zf. 15 und 16).

Auf die Bedeutung von Richtlinien des UNHCR als maßgebliche Auslegungshilfen, von denen nur ausnahmsweise aus gewichtigen, völkervertragsrechtlich zulässigen Erwägungen abgewichen werden dürfe, hat im Zusammenhang mit der Auslegung des § 60 Abs. 8 AufenthG unter Berücksichtigung von Art. 1 F GFK nunmehr auch der 8. Senat des OVG NRW hingewiesen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - Juris).

Die Auslegung der "Wegfall der Umstände"-Klausel in Art. 11 Abs. 1 e) der Qualifikationsrichtlinie nach den Grundsätzen für die Auslegung von europäischem Recht stimmt auch mit derjenigen von Art. 1 C (5) GFK nach völkervertragsrechtlichen Grundsätzen überein und beinhaltet ebenso wie diese eine qualitative Dimension der Veränderungen im Herkunftsland eines Flüchtlings, wie sie im Einzelnen in den Richtlinien des UNHCR aus dem Jahre 2003 zu den Klauseln niedergelegt sind. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der "Wegfall der Umstände"-Klauseln in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) und f) der Qualifikationsrichtlinie, der mit demjenigen der "Wegfall der Umstände"-Klauseln der Genfer Flüchtlingskonvention identisch ist.

Die Auslegung der "Wegfall der Umstände"-Klausel der Qualifikationsrichtlinie in Übereinstimmung mit der einhelligen Auslegung der entsprechenden Klausel der Genfer Flüchtlingskonvention ergibt sich darüber hinaus auch aus Systematik sowie Sinn und Zweck der Qualifikationsrichtlinie. In Erwägungsgrund 2 der Richtlinie wird ausdrücklich auf die Vereinbarungen der Sondertagung des Rates von Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 hingewiesen, nach denen sich das zu schaffende Gemeinsame Europäische Asylsystem auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls stützen sollte. Durch den Verweis auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung wird dieses Anwendungsgebot allerdings zunächst nur für das Refoulement-Verbot des Art. 33 GFK hervorgehoben. In Erwägungsgrund 3 der Richtlinie erfolgt aber die Klarstellung, dass die Genfer Konvention und das Protokoll einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellen. In Erwägungsgrund 15 der Richtlinie werden Konsultationen mit dem UNHCR als wertvolle Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft bezeichnet. Die Richtlinie stellt demnach mehrfach unmissverständlich klar, dass sie sich hinsichtlich der Regelungsbereiche, die von der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst sind, an dieser orientieren will und dabei die Stellungnahmen des UNHCR, zu denen insbesondere das Handbuch und etwaige Richtlinien zu speziellen Problemkreisen gehören, als Auslegungshilfe akzeptiert. Die gemeinsamen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Genfer Flüchtlingskonvention sollten eindeutig die Grundlage der mit der Qualifikationsrichtlinie beabsichtigten Harmonisierung sein, deren wesentliches Ziel nach Erwägungsgrund 7 der Richtlinie die Eindämmung der Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten ist. Auch aus Art. 63 Abs. 1 Ziff. 1 Buchst. c) EG, der die Rechtsgrundlage für die Qualifikationsrichtlinie darstellt, und der damit geschaffenen Bindung der EG insbesondere an die Genfer Flüchtlingskonvention sowie das Protokoll folgt, dass Abweichungen von der Genfer Flüchtlingskonvention nicht gewollt sind.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich zwangsläufig, dass die nach völkervertraglichen Grundsätzen zu ermittelnde Auslegung einzelner Konventionsbestimmungen maßgebliche Bedeutung auch für die Auslegung der Qualifikationsrichtlinie hat. Dies schließt die Heranziehung der im Zeitpunkt der Verabschiedung der Qualifikationsrichtlinie bekannten Auslegung einzelner Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention durch den UNHCR und der bekannten Staatenpraxis bei der Auslegung der Qualifikationsrichtlinie ein. Uneingeschränkt muss dies in den Fällen angenommen werden, in denen das Handbuch des UNHCR und etwaige Richtlinien eine übereinstimmende Staatenpraxis widerspiegeln und der Wortlaut der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie keinerlei inhaltliche Abweichungen hiervon beinhaltet, wie es im Falle der "Wegfall der Umstände"-Klausel der Fall ist.

An diese Auslegung der "Wegfall der Umstände"-Klausel im internationalen Flüchtlingsrecht ist die Bundesrepublik spätestens seit Ablauf der Umsetzungsfrist für die Qualifikationsrichtlinie nach den Grundsätzen der richtlinienkonformen Auslegung gebunden (vgl. hierzu im Einzelnen: Urteil der Kammer vom 12.01.2007, a.a.O.).

Soweit das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang die Auffassung vertritt, die den Widerruf betreffenden Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinie über die Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft würden gemäß Art. 14 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie nur bei Anträgen auf internationalen Schutz gelten, die nach Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie gestellt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.03.2007 - 1 C 21.06 - AuAS 2007, 164–167) kommt es auf diese Frage nach erfolgter Umsetzung des Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie in § 73 AsylVfG 2007 nicht mehr an. Denn mit dieser Umsetzung hat die Bundesrepublik Deutschland die inhaltlichen Maßstäbe des Art. 11 ohne zeitliche Übergangsregelung für bestimmte Gruppen von Flüchtlingen in das deutsche Recht übernommen. Selbst wenn sie bezüglich des Personenkreises, der vor Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, hierzu nicht verpflichtet gewesen sein sollte, findet § 73 AsylVfG nunmehr unbeschränkt Anwendung.

Unabhängig davon teilt die Kammer die vorgenannte Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht.

Art. 14 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie trifft eine Regelung ausschließlich über die Pflicht der Mitgliedstaaten, bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 11 hieraus verfahrensmäßige Konsequenzen zu ziehen, also eine zuerkannte Flüchtlingseigenschaft auch tatsächlich abzuerkennen, zu beenden oder die Verlängerung abzulehnen. Das Vorliegen der Voraussetzungen einer der Erlöschensgründe des Art. 11 wird in Art. 14 Abs. 1 vorausgesetzt, ohne dass dessen Anwendung suspendiert ist. Ausschließlich die Pflicht zur verfahrensmäßigen Umsetzung eines Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft wird auf die Schutzanträge beschränkt sein, die nach Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie gestellt wurden. Hierfür sprechen auch systematische Überlegungen. Art. 14 Abs. 1 korrespondiert mit Art. 13, der für den Fall des Vorliegens der Voraussetzungen ausdrücklich einen Zuerkennungsakt vorsieht. Ebenso wenig wie Art. 13 Regelungen zu den materiellen Voraussetzungen des Vorliegens der Flüchtlingseigenschaft trifft, verhält sich Art. 14 Abs. 1 zu der Frage, nach welchen materiellen Kriterien das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Beendigung der Flüchtlingseigenschaft zu beurteilen ist. Beide Artikel dienen nach ihrer systematischen Stellung in Kapitel IV der Qualifikationsrichtlinie der Sicherstellung, dass sowohl das Bestehen der Flüchtlingseigenschaft als auch deren Erlöschen durch förmliche Akte umgesetzt werden, um so Rechtsklarheit über den Status von Flüchtlingen in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Diese Rechtsklarheit über das Bestehen oder Nichtbestehen der Flüchtlingseigenschaft ist für die Funktionsfähigkeit des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Europäischen Gemeinschaft unabdingbar. Bezogen auf einen Wegfall der Umstände im Herkunftsstaat muss also etwa sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten dieser Tatsache durch einen förmlichen Akt Rechnung tragen, damit nicht in einem Mitgliedstaat Flüchtlingen aus einem bestimmten Herkunftsland der Rechtsstatus entzogen wird, während Flüchtlinge aus demselben Herkunftsland in einem anderen Mitgliedstaat, der noch kein Aberkennungsverfahren vorsieht, unverändert den formalen Flüchtlingsstatus behalten. Durch derartige Unterschiede würde der Sekundärmigration, die durch die Qualifikationsrichtlinie entsprechend deren Erwägungsgrund 7 gerade verhindert werden soll, erheblich Vorschub geleistet. Die Beschränkung der Verpflichtung in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie auf nach deren Inkrafttreten gestellte Schutzanträge beruht vor diesem Hintergrund vor allem auf der Überlegung, dass die Mitgliedstaaten nicht gezwungen werden sollen, alle in der Vergangenheit liegenden Anerkennungen einer Überprüfung zu unterziehen. Dies wäre einerseits praktisch kaum durchführbar und würde andererseits unter Umständen auch rechtlichen Bedenken im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot begegnen, wenn das nationale Recht in einem Mitgliedstaat einen förmlichen Entzug der Flüchtlingseigenschaft bis dahin noch nicht vorsah. Sofern das nationale Recht eines Mitgliedstaates, wie im Falle der Bundesrepublik Deutschland, bereits Regelungen über den förmlichen Entzug der Flüchtlingseigenschaft vorsieht, ist aufgrund Art. 14 Abs. 1 nichts weiter zu veranlassen. Die nationale Rechtsgrundlage für den Entzug der Flüchtlingseigenschaft im Falle eines Wegfalls der Umstände ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Dessen materielle Voraussetzungen sind nun in richtlinienkonformer Auslegung auch unter Beachtung von Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie zu bestimmen.

Die Annahme, Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie sei auf vor deren Inkrafttreten gestellte Schutzanträge gar nicht anwendbar, widerspricht zudem den materiellen Erwägungen zur Auslegung des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e). Wie dargestellt gibt es hinsichtlich der Auslegung der "Wegfall der Umstände"-Klauseln in der Qualifikationsrichtlinie und der Genfer Flüchtlingskonvention keine Diskrepanz und es besteht insbesondere hierzu eine völlig übereinstimmende Staatenpraxis, von der derzeit nur die Bundesrepublik Deutschland abweicht. Vor diesem Hintergrund gab es keinerlei Veranlassung, die Anwendung der inhaltlich übereinstimmenden Klauseln der Qualifikationsrichtlinie zeitlich zu beschränken.

Wie sich im Übrigen aus den Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums ergibt, geht auch dieses ganz offenbar von einer uneingeschränkten Anwendung des Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie aus, wenn es dort heißt: "§ 72 Abs. 1 AsylVfG ist – in unmittelbarer Anwendung der Richtlinie – um die Regelung in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d) der Richtlinie zu ergänzen." (vgl. Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG vom 13.10.2006, S. 13, Ziff. 1.4.).

Entsprechend hat nun auch der Gesetzgeber – wie bereits ausgeführt – durch die nahezu wortgleiche Übernahme der "Wegfall der Umstände"-Klausel in § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG 2007 durch das am 28.08.2007 in Kraft getretene Richtlinienumsetzungsgesetz die Anwendbarkeit von Art. 11 der Qualifikationsrichtlinie – ohne zeitliche oder personelle Beschränkung – klargestellt.

Gemessen an den demnach nach völkerrechtlichen und europarechtlichen Grundsätzen zu fordernden Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft liegen diese gegenwärtig bezogen auf den Irak zur Überzeugung der Kammer unverändert nicht vor.

Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Volks- und Religionsgruppen eskalieren unaufhörlich. Ein Ende der Gewaltspirale ist nicht in Sicht, vgl. UN Assistance Mission for Iraq (UNAMI), Human Rights Report, 1 January-31 March 2007; Guido Steinberg, Der Irak zwischen Föderalismus und Staatszerfall, SWP-Studie, Berlin, Juli 2007; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Iraqi Asylum Seekers, Genf, August 2007, deutschsprachige Zusammenfassung, September 2007).

Der Irak gilt als gescheiterter Staat (failed state), der noch über Jahre instabil bleiben wird. Es besteht die große Gefahr dass sich die Konflikte in allen Landesteilen in der zweiten Jahreshälfte 2007 und im Jahr 2008 weiter verschärfen. Der vollständige Staatszerfall ist eine offen diskutierte, inzwischen sogar vom amerikanischen Senat geforderte politische Option; die damit verbundenen Eskalationsrisiken durch eine Regionalisierung des Konflikts sind allerdings unkalkulierbar (vgl. Guido Steinberg, Der Irak zwischen Föderalismus und Staatszerfall, SWP-Studie, Berlin, Juli 2007; "Weniger zivile Opfer im Irak", FAZ vom 02.10.2007; "Iraks Präsident fordert schnellen Abzug der US-Truppen", SZ vom 09.10.2007; Joschka Fischer, "Der Schlüssel liegt in Syrien", SZ vom 09.10.2007).

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Eskalation der Gewalt hat auch die Beklagte aufgrund eines Erlasses des Bundesministeriums des Innern vom 15.05.2007 - M I 4-125 421 IRQ/0 - inzwischen ihre Entscheidungspraxis geändert und sieht nunmehr hinsichtlich bestimmter Personengruppen von der Einleitung von Widerrufsverfahren ab. Bereits laufende Widerrufsverfahren sollen ruhen. Da die in dem Erlass genannten Personengruppen in erster Linie durch eine besonders hohe Schutzbedürftigkeit gekennzeichnet sind, ist dieser Erlass nach Auffassung der Kammer ein Hinweis darauf, dass auch auf Seiten des Bundesministeriums des Innern nunmehr Zweifel bestehen, ob die Widerrufsvoraussetzungen unter dem Aspekt der fehlenden Wiederherstellung nationalen Schutzes hinsichtlich des Irak vorliegen. Dieser Eindruck drängt sich vor allem deshalb auf, weil die Systematik des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 2007, der dem Bundesamt kein Ermessen einräumt, im Ansatz keinen Raum für die Bildung derartiger Fallgruppen bietet.