VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 04.10.2007 - Au 5 K 07.30205 - asyl.net: M11869
https://www.asyl.net/rsdb/M11869
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Folgeantrag, politische Entwicklung, Turkmenen, Gruppenverfolgung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, willkürliche Gewalt, bewaffneter Konflikt, Erlasslage, Abschiebungsstopp, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Kriminalität, Versorgungslage, medizinische Versorgung
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Die Klage ist zulässig, sie ist jedoch, auch im Hilfsantrag, unbegründet.

I. Der neuerliche Antrag ist Folgeantrag im Sinne von § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, soweit mit ihm erneut Abschiebungsschutz (nunmehr) nach § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt wird.

2. Der vom Kläger gestellte Folgeantrag birgt keinen beachtlichen Ansatz für eine neue Sachprüfung des Schutzbegehrens. Im Einzelnen beruht dies auf folgenden Gründen:

a) Soweit der Kläger auf die allgemeine Situation in Irak verweist, liegt keine sich nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geänderte Sach- und Rechtslage vor, die eine ihm günstigere Entscheidung herbeiführen würde.

Dies gilt auch unter Zugrundelegung der Anforderungen der nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG (in der Fassung des Gesetzes vom 19.8.2007; BGBl. I S. 1970) zu berücksichtigenden Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie), insbesondere soweit der Begriff der Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG durch Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie Ergänzungen erfährt.

c) Auch seine turkmenische Volkszugehörigkeit führt zu keiner anderen Beurteilung. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 11. Januar 2007 bietet keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine zumindest mittelbare staatliche Verfolgung des Klägers. Nach dem Lagebericht leben die meisten der ca. 400 000 irakischen Turkmenen im Raum Kirkuk und im westlich von Mosul gelegenen Gebiet Tal Afar. Die irakische Turkmenenfront ist mit einem Abgeordneten im Parlament vertreten. Auch wenn die Turkmenen befürchten, Opfer der steigenden Spannungen zwischen Arabern und Kurden zu werden, hat jedenfalls der Kläger nichts vorgetragen, was gerade in seinem Fall eine konkrete Gefährdung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG begründen könnte.

II. Neben dem Folgeantrag nach § 71 Abs. 1 AsylVfG wird mit dem neuerlichen Antrag auch hilfsweise ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich § 60 Abs. 2–7 AufenthG/vormals § 53 Ausländergesetz (AuslG) geltend gemacht.

2.2 § 60 Abs. 7 AufenthG entspricht größtenteils sogar dem Wortlaut nach der Regelung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG; er setzt sie in Form eines "Soll"-Auftrags gewissermaßen fort. Deshalb ist nach Auffassung des Gerichts auch hier die Rechtsprechung zur "Alt"-Regelung heranzuziehen.

Für den Kläger hier ist eine derartige Gefahrensituation nicht ersichtlich. Es fehlt an entsprechend überzeugungskräftigen Anhaltspunkten. Er hat lediglich verwiesen auf die allgemeine Lage in Irak. Auch der angeführte Gesichtspunkt der Gefährdung wegen seiner turkmenischen Volkszugehörigkeit bietet keinen Ansatz, aus dem sich beachtlich wahrscheinlich ergäbe, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak landesweit in Leib- bzw. Lebensgefahr geraten würde. Ebenso wenig ist eine Gefährdung anzunehmen aufgrund der Drohung durch seinen Onkel, dass er nicht mehr zu seiner Familie zurückkehren solle.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (in der Fassung vom 19.8.2007), der die Voraussetzungen des Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie in deutsches Recht umsetzt. Danach ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die hierfür zumindest erforderliche Konfliktsituation von gewisser Dauer und Intensität, die wohl einer Bürgerkriegssituation vergleichbar sein müsste (siehe hierzu Hinweise des Bundesministeriums des Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG vom 13.10.2006, S. 16; Hollmann, Asylmagazin 2006/11), liegt nach Auffassung des Gerichts jedenfalls nicht vor. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismaterialien ist nicht ableitbar, dass in Irak landesweit eine Bürgerkriegssituation gegeben wäre (vgl. zuletzt LB 01.07, S. 15 f.). Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass in Bagdad und anderen Städten, vor allem im zentralirakischen sog. "sunnitischen Dreieck", zumindest bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, könnte dies nicht zu einem Schutzanspruch führen, da ein innerirakisches Ausweichen in andere Landesteile möglich erscheint und damit interner Schutz gewährleistet ist (siehe hierzu LB 01.07 a.a.O.). Hiervon abgesehen steht wohl auch die bei allgemeinen mit einem bewaffneten Konflikt in Zusammenhang stehenden Gefahren vergleichbaren Schutz bietende nachstehend dargestellte Erlasslage der Gewährung richtliniengemäßen subsidiären Flüchtlingsschutzes entgegen (BayVGH vom 30.3.2007, Az. 13 a B 06.31132).

Gefahren, denen die Bevölkerung in dem Land allgemein ausgesetzt ist – beispielsweise aufgrund mangelhafter Sicherheits- und/oder Versorgungslage, genügen im Hinblick auf die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG (die Regelung entspricht § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in der bisherigen Fassung) in der Regel nicht für die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Verfassungskonforme Auslegung (aufgrund Art. 1 i. V. m. Art. 2 GG) dürfte allerdings dann zu einer Ausnahme führen, wenn der Ausländer bei einer – nicht bereits mit dem Instrument des § 60 a Abs. 1 AufenthG vorgebeugten – Abschiebung in seinen Heimatstaat "sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde", z.B. weil dort (landesweit) Bürgerkrieg, Hungersnot oder ähnlich lebensbedrohliche Umstände herrschen (vgl. BVerwG vom 8.12.1998 DVBl 1999, 549, ferner vom 26.1.1999 NVwZ 1999, 668 zu § 53 Abs. 6 AuslG). Die vorhandene Erlasslage im Sinn von § 60a AufenthG bei Gefahren, denen die Bevölkerung (bzw. Bevölkerungsgruppe) allgemein ausgesetzt ist, schließt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG aus.

Davon abgesehen ist die allgemeine Lage in Irak aber auch nicht so zugespitzt, dass von einer sich nahezu zwangsläufig realisierenden, extremen Gefahrenlage für den Kläger (im Sinne der Rechtsprechung des BVerwG a.a.O.) auszugehen wäre. Auch diese Aussage lässt sich – ähnlich wie oben – hinreichend verlässlich für einen absehbaren, zukünftigen Zeitraum treffen.

Den eingeführten Erkenntnismaterialien sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass aus den Angriffen und Attentaten in Irak eine Gefährdung der gesamten Bevölkerung herzuleiten sei. Die Lage ist erkennbar zwar nicht sicherer geworden, sondern hat sich weiter verschlechtert. Die Sicherheitslage der Bevölkerung hat sich aber nach Überzeugung des Gerichts auch aktuell nicht so zugespitzt, dass allgemein von der Realisierung schwerster Gefahren auszugehen wäre. Der Kläger selbst weist auch keine besonderen Gefährdungsmomente auf, die – auf dem Hintergrund der virulenten Sicherheitssituation betrachtet – begründet darauf schließen ließen, dass er in Irak Ziel und Opfer von Anschlägen würde.

Was die sonstige Sicherheitslage, also die Sicherheit vor gewissermaßen gewöhnlicher Gewaltkriminalität, betrifft, so sind durch den Aufbau eigener irakischer Polizei und sonstiger Sicherheitskräfte zwar nur begrenzte Erfolge zu verzeichnen. Allein daraus lässt sich aber – hier auch mangels entsprechend konkreter Anhaltspunkte in der Person des Klägers – noch nicht begründet der Schluss ziehen, dass er in Irak (als Rückkehrer aus dem Ausland) schwersten Übergriffen durch Gewaltkriminalität unterliegen wird.

b) Die Versorgungslage in Irak, insbesondere die im Bereich der Elementar-/Grundversorgung (u.a. mit Lebensmitteln, Wasser, Strom oder sonstiger Energie) wird vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom Januar 2007 als "schlecht" bzw. "drastisch verschlechtert" beurteilt.

Dafür, dass sich die Versorgungslage mittlerweile landesweit allgemein ernsthaft lebensbedrohlich verschlechtert hätte, ist den Quellen konkret nichts zu entnehmen. International wird für den Irak weiter in beachtlichem Umfang pekuniäre und sonstige Hilfe geleistet.

Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass, stärker als in westlichen Gesellschaften, Rückkehrer in Irak auf Aufnahme und Versorgung durch Familie oder Stammesstrukturen und Sippe zählen können (LB 01.07, S. 35).

c) Die medizinische Versorgung ist "angespannt" bzw. "kann nicht grundsätzlich als sichergestellt angesehen werden" (Auskunft der Deutschen Botschaft vom 16.1.2005 an VG Düsseldorf, LB 01.07, S. 36).

Besondere Umstände, die gerade dem Kläger hier ein Leben und Überleben in Irak nicht nur – wie der Bevölkerung dort allgemein – schwierig, sondern wegen erheblicher/existenzieller Gefährdung unzumutbar machten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Für hier eventuell beachtliche gesundheitliche Einschränkungen ergab sich kein hinreichender Anhalt. Sonst unter Umständen beachtliche Auffälligkeiten oder Einschränkungen sind weder in seiner Person noch in dem von ihm geschilderten persönlichen Lebensumfeld in Irak ersichtlich.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass derzeit und absehbar auch die allgemeinen Verhältnisse in Irak nicht derart gelagert sind, dass (zumindest) eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hier zur Feststellung von Abschiebungshindernissen führt.