VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 17.09.2007 - 5 K 5421/06.A - asyl.net: M11903
https://www.asyl.net/rsdb/M11903
Leitsatz:
Schlagwörter: Georgien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Niereninsuffizienz, Anämie, Hyperparathyreoidismus, Hepatitis C, HIV/Aids, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, mittellose Kranke, extreme Gefahrenlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Kläger hat auch unter Berücksichtigung seiner Erkrankungen keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Die Niereninsuffizienz kann in Georgien behandelt werden. Ausweislich der vom Bundesamt zitierten und auch dem Gericht vorliegenden Auskunft der Deutschen Botschaft in Tiflis vom 14. Dezember 2005 und der im Verfahren eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft in Tiflis vom 17. August 2007 kann eine Hämodialyse in Georgien an bestimmten Kliniken durchgeführt werden. Die Dialyse ist Teil des staatlichen Gesundheitsprogrammes und kostenfrei. Der Dialysemöglichkeit stehen nach der Auskunft der Deutschen Botschaft in Tiflis vom 17. August 2007 weder die HIV- noch die Hepatitis-C-Erkrankung entgegen.

Bis zur Aufnahme in eine (dann kostenlose) Dialysebehandlung in Georgien muss nach den genannten Auskünften zwar mit mehrmonatigen Wartezeiten gerechnet werden. Diese Wartezeit begründet aber kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, weil bei entsprechender Gestaltung der Abschiebung eine Weiterbehandlung im Heimatstaat ohne Unterbrechung möglich ist. Die Wartezeit ist von der Ausländerbehörde nämlich bei der Organisation der Abschiebung des Klägers zu beachten. Denn der Ausländerbehörde obliegt es, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann.

Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass der Kläger erst nach Georgien abgeschoben werden kann, wenn die Ausländerbehörde im Rahmen der Abschiebungsvorbereitung sichergestellt hat, dass der Kläger – etwa über die deutsche Botschaft in Tiflis – rechtzeitig in Georgien zur Dialyse angemeldet wird und dort im Zeitpunkt der Abschiebung für ihn ein Dialyseplatz ohne Wartezeit zur Verfügung steht. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist die in Georgien gegebene Behandlungsmöglichkeit dem Kläger auch finanziell zugänglich, da sie kostenfrei erfolgt.

Ausweislich der Auskünfte Deutschen Botschaft in Tiflis vom 19. November 2001 und 13. Februar 2007 (letztere im Verfahren eingeholt) ist auch eine Hepatitis-C-Erkrankung in Georgien medikamentös behandelbar.

Als (notwendige) Folge der terminalen Niereninsuffizienz leidet der Kläger an einer renalen Anämie. Dieser Mangel an roten Blutkörperchen, der durch die fehlende Bildung des Hormons Erythropoetin in der Niere verursacht wird, wird durch die Zuführung des entsprechenden Hormons behandelt (vgl. den im Internet allgemein zugänglichen Artikel des Facharztes für Innere Medizin Dr. Marcell Toepfer zum Stichwort "Renale Anämie" – zu finden unter der Adresse: www.netdoktor.de und dem o.a. Stichwort (Stand: 20. November 2006)).

Dieses u. a. als "EPO" bezeichnete Hormon ist ausweislich der Auskunft der Deutschen Botschaft in Tiflis vom 14. Dezember 2005 in Georgien erhältlich.

Auch der sekundäre Hyperparathyreoidismus (Überfunktion der Nebenschilddrüse) ist eine Folgeerscheinung der Niereninsuffizienz, die in der Folge zu Knochenerweichung führen kann (vgl. den im Internet allgemein zugänglichen Artikel "E 21 – Überfunktion und andere Erkrankungen der Nebenschilddrüse" – zu finden unter der Adresse: www.netdoktor.de und dem o.a. Stichwort (Stand: 4. Dezember 2006)). Die Knochenerweichung bewirkt Veränderungen am Skelett: Durch die verminderte Einlagerung von Mineralien ist die Festigkeit der Knochens gegenüber den täglichen Belastungen nicht mehr ausreichend, es kommt zu Verkrümmung der Wirbelsäule, der Knochen in den Beinen (X- oder O-Beine) und des Brustkorbes (vgl. Artikel "M83 – Knochenerweichung bei Erwachsenen" zu finden unter der Adresse: www.netdoktor.de und dem o. a. Stichwort (Stand: 4. Dezember 2006)).

Da eine derartige Folge ausweislich der vorgelegten ärztlichen Bescheinigung über die Diagnose vorhandener Erkrankungen noch nicht eingetreten ist, ist der Kläger nicht alsbald nach Rückkehr auf die Möglichkeit der Behandlung der Überfunktion angewiesen.

Auch der Umstand, dass der Kläger HIV-positiv getestet worden ist, vermittelt ihm keinen Anspruch auf einen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Ausweislich der im Verfahren eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft in Tiflis vom 13. Februar 2007 ist eine für den Patienten kostenlose, vom georgischen Staat finanzierte Behandlung und Medikation der HIV-Infektion möglich. Die Behandlung erfolgt mit antiretroviralen Medikamenten (in der Regel mit Retrovir, Epivir und Virasept). Ausweislich eines Schreibens der AIDS-Hilfe L vom 20. August 2007 erhält der Kläger zur Zeit die antiretroviralen Mittel Kaletra und Combivir. Combivir ist nach den im Internet zugänglichen Informationen ein Kombinationspräparat aus Retrovir und Epivir; Kaletra ein Alternativmittel zu Virasept (vgl. z.B. "Leitlinie: Antivirale Therapie der HIVInfektion" der "Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften"; im Internet veröffentlicht unter awmf.org; Suchweg dort: Leitliniendatenbank – Stichwortsuche – Stichwort: HIV).

Selbst wenn der Kläger nicht die Möglichkeit hätte, die zur Behandlung der renalen Anämie und der Hepatitis C erforderlichen Medikamente in Georgien mangels ausreichender Mittel zu finanzieren, vermittelte ihm die insoweit fehlende – allein finanziell begründete – Zugänglichkeit zu der im Heimatland möglichen Behandlung keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Denn die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird insoweit durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG "gesperrt". Nach dieser Vorschrift werden Gefahren in dem Abschiebezielstaat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, allein bei Entscheidungen nach § 60a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt.

Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist danach die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzelnen Ausländers "gesperrt", wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; BVerwG, Urt. 27. April 1998 - 9 C 13.97).

Dies ist hier der Fall, da die Gefahr einer allein aus finanziellen Gründen nicht möglichen medizinischen Behandlung grundsätzlich der gesamten Bevölkerungsgruppe der mittellosen Kranken in Georgien allgemein droht, d.h. derjenigen, die dort die erforderlichen Behandlungskosten für ihre behandelbare Krankheit nicht aufbringen können. Die derart verstandene (nach sozialen Merkmalen bestimmte) Gruppe bildet – ungeachtet der Frage, wie umfangreich die Gruppe der Nierenkranken in Georgien ist – eine eigene Bevölkerungsgruppe i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG (vgl. zur Gruppe, die aus finanziellen Gründen beschränkten Zugang zu einer Heilbehandlung hat: BVerwG, Beschl. v. 29. April 2002 - 1 B 59/02; BVerwG Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; VGH München, Beschl. v. 10. Oktober 2000 - 25 B 99.32077; OVG SH, Urt. v. 29. Oktober 2003 - 14 A 246/02).

Georgien ist nach wie vor mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von etwa 600 US-Dollar pro Jahr als armes Land zu bezeichnen. Der Transformationsprozess der Volkswirtschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist in absehbarer Zeit noch nicht abgeschlossen. Das Bruttosozialprodukt liegt immer noch weit unter dem Wert von 1989. 1997 lebten 46 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, 2002 waren es 52 Prozent, 2003 bereits 54,5 Prozent (vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, www.bmz.de/de/laender/partnerlaender/georgien/zusammenarbeit.html, aufgerufen am 23. Mai 2006; Info-Brief der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages v. 29. Juli 2005, /www.bundestag.de/bic/analysen/2005/2005_07_29.pdf, aufgerufen am 26. Mai 2006; EU-Länderbericht Georgien vom 02. März 2005, S. 17).

Für eine extreme Gefahrenlage bestehen im Falle des Klägers indes keine Anhaltspunkte. Dass ihm bei Rückkehr nach Georgien alsbald der sichere Tod oder schwerste Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit drohten, ist nicht erkennbar. Derartige, mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintretende schwersten Folgen sind weder mit einer niereninsuffizienzbedingten Blutarmut (= renale oder nephrogene Anämie) noch mit den Folgen einer unbehandelten chronischen Hepatitis-C-Erkrankung verbunden.

Bei leichtem Blutmangel sind erste Symptome leichte Ermüdbarkeit, Schwindelgefühle, Herzklopfen, erst bei schwerem Blutmangel kann es zu Herzenge und Atemnot kommen (vgl. den im Internet allgemein zugänglichen Artikel des Facharztes für Innere Medizin Dr. Marcell Toepfer zum Stichwort "Renale Anämie" – zu finden unter der Adresse: www.netdoktor.de und dem o. a. Stichwort (Stand: 20. November 2006)).