VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 30.08.2007 - 3 V 58.06 - asyl.net: M11934
https://www.asyl.net/rsdb/M11934
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Kindernachzug, Familienzusammenführung, Kindernachzug, Beurteilungszeitpunkt, Alter, Sprachkenntnisse, Integration, Zukunftsprognose, besondere Härte, Sri Lanka, alleinstehende Frauen, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, Freibetrag, Werbungskostenpauschale, Werbungskosten
Normen: AufenthG § 32 Abs. 2; AufenthG § 32 Abs. 4; AufenthG § 36; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 2 Abs. 3; SGB II § 11 Abs. 2; SGB II § 30
Auszüge:

Die Klage ist als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 2. Alt. VwGO zulässig, jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums (§ 113 Abs. 5 VwGO), so dass ihrem Verpflichtungsbegehren nicht entsprochen werden konnte. Der angefochtene Bescheid der deutschen Botschaft in Colombo ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Rechtsgrundlage für die Erteilung eines Visums zum Kindernachzug an die Klägerin ist § 32 Abs. 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. S. 1969).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (noch zu § 20 AuslG) ist hinsichtlich des Lebensalters auf den Zeitpunkt der Antragstellung (hier: 4. Oktober 2005) abzustellen, weil die Vorschrift den Zweck verfolgt, Kindern unter 16 Jahren die Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet zu ermöglichen und dieser Zweck durch Zeitablauf weitgehend verfehlt würde, wenn man auf den späteren Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abstellte (Urteil des BVerwG vom 18. November 1997, Buchholz 402.240 § 20 AuslG 1990 Nr. 4). Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin bereits weit über 17 Jahre alt.

Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch nach der hier einschlägigen Vorschrift des § 32 Abs. 2 AufenthG. Sie hat weder belegt, dass sie die deutsche Sprache beherrscht, noch ist gewährleistet, dass sie sich aufgrund ihrer bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Sie verfügt lediglich über eine 10-jährige, im Jahre 2003, also im Alter von 15 Jahren abgeschlossene Schulausbildung, die ihr offenbar keine – in Deutschland verwendbare – Berufsausbildung und außer Englisch, wo sie ausweislich des vorgelegten Zeugnisses nur schwache Leistungen zeigte, keine Fremdsprachenkenntnisse vermittelte, die ihr die Integration erleichtern könnten. Soweit in der mündlichen Verhandlung vorgetragen wurde, dass sie inzwischen eine weiterführende Schule besucht und die abschließenden Prüfungen abgelegt habe, fehlt jeglicher Nachweis über das Bestehen dieser Prüfungen und über die während des Schulbesuchs erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten, so dass eine günstigere Integrationsprognose nicht gestellt werden kann.

Auch die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 AufenthG, wonach zur Vermeidung einer besonderen Härte abweichend von den oben genannten Voraussetzungen der Kindernachzug genehmigt werden kann, liegen nicht vor.

Ein besonderer Härtefall im Sinne dieser Vorschrift ist jedoch nicht gegeben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt eine besondere Härte dann vor, wenn sich die Lebensverhältnisse, die die Anwesenheit des Minderjährigen in seiner Heimat bislang ermöglicht haben, in einer unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Weise ändern und der dadurch eingetretenen Notlage nur durch einen Nachzug des Minderjährigen begegnet werden kann; die eingetretene Veränderung muss wesentlich sein und den Minderjährigen ungleich schwerer treffen als andere Ausländer in vergleichbarer Lage (vgl. GK-AuslR § 20 Rn. 100 m.w.N.). Hierfür ist im Hinblick auf die obigen Ausführungen nichts ersichtlich. Auf eine Betreuung und Erziehung, die evtl. in Sri Lanka nicht gewährleistet wäre, ist die inzwischen erwachsene Klägerin nicht mehr angewiesen. Mit dem Hinweis, dass sie als allein stehende junge Frau vor dem kulturellen und religiösen Hintergrund in Sri Lanka eines familiären Hintergrundes bedürfe, zeigt sie einen Härtefall nicht auf, ebenso wenig mit dem Hinweis auf die anhaltende Bürgerkriegs- bzw. bürgerkriegsähnliche Situation.

Auch das der Beklagten – bei Annahme eines Härtefalles – zustehende Ermessen hat sich nicht in der Form auf Null reduziert, dass zugunsten der Klägerin als einzig rechtmäßige Entscheidung die Erteilung des begehrten Visums verbliebe. Bei der Ermessensentscheidung hat die Behörde – wie bereits bei Anwendung der Vorgängerschrift § 20 Abs. 4 AuslG – die familiären Belange, namentlich das Wohl des nachzugswilligen Kindes im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller im jeweiligen Einzelfall für und gegen den Nachzug sprechenden persönlichen Umstände sachgerecht abzuwägen mit den gegenläufigen öffentlichen Interessen, insbesondere den einwanderungs- und integrationspolitischen Belangen der Bundesrepublik Deutschland. Für die Frage, welches Gewicht den familiären Belangen des Kindes und den geltend gemachten Gründen für einen Nachzug in die Bundesrepublik zukommt, ist die Lebenssituation des Kindes im Heimatland von wesentlicher Bedeutung. Dazu gehört unter anderem, ob noch ein Elternteil im Heimatland lebt, inwieweit das Kind seine soziale Prägung im Heimatland erfahren hat, ob und inwieweit das Kind noch auf Betreuung und Erziehung angewiesen ist, sowie wer das Sorgerecht für das Kind hat. Ebenfalls zu berücksichtigen ist das Alter des Kindes. Für 14- oder 15-jährige Kinder hat die elterliche Betreuung typischerweise nicht mehr das gleiche Gewicht wie für jüngere Kinder. Bei Kindern, die erst mit 14 oder 15 Jahren nachziehen wollen, wird oft nicht die Absicht im Vordergrund stehen, im Bundesgebiet die Familieneinheit herzustellen, sondern die Absicht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Noch viel mehr gilt dies für ein Kind, das – wie die Klägerin – bei Antragstellung kurz vor Vollendung des 18. Lebensjahres stand. Das Alter des Kindes ist aber auch aus integrationspolitischen Gründen relevant. Je jünger die Kinder bei ihrem Nachzug sind, desto eher wird eine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse gelingen (vgl. Urteil des BVerwG vom 18. November 1997 InfAuslR 1998 S. 161 f.).

In die Abwägung wäre weiterhin einzubeziehen, inwieweit das Kind seine soziale Prägung im Heimatland erfahren hat, in welchem Maß es dort noch auf Betreuung und Erziehung angewiesen ist und wer es dort bislang betreut hat und dort weiterhin betreuen kann. Dem Alter des Kindes kommt dabei wesentliche Bedeutung sowohl im Hinblick auf seine bisherige Integration im Heimatland als auch im Hinblick auf eine zu erwartende Integration in der Bundesrepublik (BVerwG, a.a.O.) zu. Die Beklagte hat zu Recht darauf abgestellt, dass die im Zeitpunkt der letzten Antragstellung (4. Oktober 2005) auf die Vollendung ihres 18. Lebensjahres zugehende Klägerin ausschließlich in ihrem Heimatland Sri Lanka aufgewachsen und somit dort sozial und kulturell verwurzelt ist. Sie würde folglich aus vertrauten Verhältnissen herausgerissen und in eine kulturell, sprachlich und gesellschaftlich fremde Umgebung versetzt. Im Fall der Verlegung des Lebensmittelpunktes in die Bundesrepublik müsste sie sich in eine fremde Umwelt einfinden und sich neu auf ihren seit 1996 in Deutschland lebenden Vater einstellen. Auch ist mit fortgeschrittenem Alter die Integration in die deutschen Lebensverhältnisse erschwert.

Im Übrigen wäre eine Ermessensentscheidung aber selbst bei Vorliegen einer besonderen Härte nur eröffnet, wenn auch die übrigen Erteilungsvoraussetzungen erfüllt wären (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 32 Rn. 28). Dies ist aus den unten dargelegten Gründen jedoch nicht der Fall.

§ 36 AufenthaltsG gebietet die Erteilung eines Visums ebenfalls nicht.

Es fehlt im Übrigen an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, nämlich der erforderlichen Sicherung des Lebensunterhalts. Mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung kann hier anders als in den Fällen von § 5 Abs. 3 oder § 29 Abs. 2 und 4 AufenthG nicht von der erforderlichen Sicherung des Lebensunterhalts abgesehen werden.

§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert ist, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Die Feststellung dieser Voraussetzung erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit dem tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkommen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005, a.a.O.).

Der nach §§ 20, 28 des Sozialgesetzbuches Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II) vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954) in der Fassung vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 2014) in Verbindung mit § 1 der Regelsatzfestsetzungsverordnung vom 26. Juni 2007 (GVBl. S. 247), den Kosten für die Unterkunft (§ 22 SGB II in der Fassung vom 24. März 2006 <BGBl. I S. 558>) - und den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung (§ 26 SGB II in der Fassung vom 21. März 2005 <BGBl. I S. 818>) zusammen.

Danach ergibt sich ein Unterhaltsbedarf in Höhe von mindestens 1.482,00 Euro, wobei die angemessenen oder die tatsächlichen Unterkunftskosten, die in den Bedarf einzustellen sind (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II a. F.), noch deutlich über den nach dem Darlehensangebot der D. AG vom 10. April 2007 mit monatlich 302,00 Euro bemessenen Zins- und Tilgungsleistungen liegen dürften.

Im Einzelnen berechnet sich der Unterhaltsbedarf wie folgt:

Regelbedarf nach § 20 Abs. 2 SGB II für die Eltern der Klägerin:

2 X 312,00 Euro = 624,00 Euro

Regelbedarf nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 SGB II für die Klägerin und ihre Schwester:

2 X 278,00 Euro = 556,00 Euro

Kosten der Unterkunft 302,00 Euro

Gesamtbedarf = 1.482,00 Euro.

Dem so ermittelten Unterhaltsbedarf steht kein gesichertes Einkommen der Eltern der Klägerin gegenüber.

Für die Berechnung des zur Verfügung stehenden Einkommens ist ebenfalls das Sozialgesetzbuch Zweites Buch maßgebend, das in § 11 Abs. 1 SGB II bestimmt, welches Einkommen bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II zu berücksichtigen ist. Von den danach ermittelten Einnahmen sind sämtliche in § 11 Abs. 2 SGB II genannten Posten abzusetzen.

Dies gilt auch für den Erwerbstätigenfreibetrag nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in Verbindung mit § 30 SGB II (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. April 2007 - VG 12 B 16.07).

Ebenso vom Einkommen abzusetzen sind die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB II genannten notwendigen Ausgaben bei der Erzielung des Einkommens (a.A. VG Lüneburg, Urteil vom 18. Januar 2007 - 6 A 353/05 -, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. November 2006 - 11 LB 127/06 -, juris, insoweit jeweils ohne Begründung). Dieser gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II abzuziehende Pauschalbetrag in Höhe von 100,00 Euro soll die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 bis 5 SBG II genannten Beiträge und Auslagen kompensieren, weil es sich dabei nach Auffassung des Gesetzgebers um einen im Regelfall tatsächlich entstehenden Aufwand handelt, der das Einkommen entsprechend mindert. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob entsprechende Auslagen, z.B. Versicherungsbeiträge oder Fahrtkosten, im Einzelfall wirklich entstehen. An die Stelle des pauschalierten Betrages treten nach dem eindeutigen Wortlaut von § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB II nur dann die tatsächlichen Aufwendungen, wenn diese die Pauschale übersteigen, das monatliche Einkommen mehr als 400,00 Euro beträgt und entsprechende Nachweise vorgelegt werden. Diese erwerbsfähige Hilfebedürftige begünstigende Regelung wirkt sich zwar bei der ausländerrechtlich relevanten Frage nach der Sicherung des Lebensunterhalts wiederum zu Lasten der Betroffenen aus; dies ist jedoch in der Regelung der §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG angelegt. Der Lebensunterhalt ist aus den oben dargelegten Gründen bereits dann nicht gesichert, wenn der Ausländer einen Anspruch auf öffentliche Leistungen hat, und zwar unabhängig davon, ob er diese tatsächlich in Anspruch nimmt. Dem Abzug der Werbungskostenpauschale steht weiter nicht entgegen, dass sie bereits bei der Einkommensteuerberechnung berücksichtigt wird, da in dem hier betroffenen Niedriglohnbereich ohnehin nur geringe Steuern anfallen, sich die Werbungskostenpauschale mithin steuerlich – wenn überhaupt – nur unwesentlich auswirkt. Im Übrigen steht es im Ermessen des Gesetzgebers, welche Abzüge er bei der Berechnung des sozialrechtlich maßgeblichen Einkommens vorsieht, zumal die Regelungen der §§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 bis 5 SGB II insgesamt eine Privilegierung beinhalten, wie § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB II zeigt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O.). Die Anwendung der dargestellten Grundsätze ergibt hier, dass der Lebensunterhalt der Klägerin nicht gesichert ist.